Runlandsaga - Wolfzeit
nicht deinen Platz, oder wir lehren dich Respekt!«
Die wutentbrannte Stimme hatte kaum ausgesprochen, als die beiden Antara, die bisher Alcarasán in ihre Mitte genommen hatten, sich mit grimmigen Mienen Enris zuwandten. Einer der beiden hielt einen schmalen, glänzenden Gegenstand wie ein kleines Metallrohr mit Druckknöpfen in der Hand, das er auf den jungen Mann richtete.
Jahanila erkannte, dass dies die Waffe gewesen sein musste, die Alcarasán bei seiner Ankunft mit einem Blitzstrahl getroffen hatte. Sie trat einen Schritt vor und stellte sich vor Enris. Dieser bemerkte nicht, was geschah. Seine Augen waren weiter auf die schemenhafte Rauchgestalt über den Sarkophagen gerichtet.
»WER ICH BIN?«, donnerte seine Stimme durch den Raum. Sein Zorn verlieh ihm eine Klarheit, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte. Er war sich bewusst, dass alles an einem seidenen Faden hing – sein Leben, das seiner Begleiter, ja die Welt von Runland selbst mit seinen Bewohnern. Ein falscher Satz, und die Ainsarii würden ihn töten. Aber er hatte endgültig genug. »Ich bin ein Nachkomme der Wesen, die ihr einst erschaffen habt! Als ihr meinem Volk das Leben gabt, da habt ihr eine hohe Verantwortung auf euch genommen, wie sie Eltern gegenüber ihren Kindern haben. Und nun wollt ihr euch aus dieser Pflicht stehlen – warum? Weil sie euch inzwischen lästig geworden ist? Weil wir uns nicht so schnell entwickelt haben, wie ihr das gerne gesehen hättet?«
»Kein Wort mehr, Temari!« , unterbrach ihn der Chor der Stimmen. » Hüte deine Zunge, oder wir reißen sie dir aus dem Mund!«
Die Stimmen der Ainsarii summten durch den Kuppelsaal wie ein Schwarm wütender Hornissen, doch Enris achtete nicht auf ihre Erregung. Sein Zorn brannte ihm bitter in der Kehle. »Von mir aus!«, schrie er zurück. »Bringt mich ruhig um, aber ihr werdet mir nichts mehr befehlen.Was sind wir eigentlich für euch? Lebendige Wesen oder Werkzeuge für euren Plan, die Alten Götter wieder zurückzuholen? Wenn ihr lieber hier in eurem selbst gewählten Gefängnis bleiben und eure Wunden lecken wollt, fein, nur zu! Aber wir werden nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Serephin unsere Welt vernichten. Wir werden zurückgehen und gegen sie kämpfen, mit oder ohne euch!«
Auf seine letzten Worte hin trat Totenstille ein. Enris hörte seinen erregten Atem und bemerkte, dass ihm die zu Fäusten geballten Hände zitterten. Neria und Jahanila standen neben ihm wie zu Stein erstarrt.
»Ihr werdet sterben, wenn ihr zurückgeht« , gab der Chor der Ainsarii schließlich unwillig zurück.
»Wenn es unser Schicksal ist zu sterben, dann kann nichts und niemand dies verhindern«, wandte Neria schnell ein, bevor Enris etwas erwidern konnte. »Versteht ihr es immer noch nicht? Für uns ist die Welt von Runland nicht nur eine der zahllosen Welten aus Cyrandiths Traum. Es ist die Einzige, die wir kennen, die Welt, in der wir die Träume unserer kurzen Leben Gestalt annehmen lassen, das Zuhause unserer Familien und der Ort, an dem wir diejenigen wiederfinden, die vor uns gegangen sind. Wir sind nicht mehr die Kinder, die eure Vorfahren einst erschufen. Wir sind erwachsen geworden. Uns drängt ebenso die Verantwortung, unser Heim und unsere Verwandten zu schützen, wie es diese Serephinfrau hier drängt, wenn auch aus anderen Gründen.«
Ein dünnes Lächeln stahl sich in Jahanilas Gesicht, bevor es wieder ernst wurde. »Du sprichst weise, Temari«, sagte sie. »Und dein Freund ebenfalls. In der Tat ist es auch mein Wunsch, dass die Welt von Runland vor den Serephin gerettet wird. Und nicht nur meiner. Nicht mehr alle in unserer Heimat betrachten euch als ihre Feinde.« Sie trat der schwebenden Gestalt aus Rauch entgegen, bis sie dicht vor dem Sarkophag in der Mitte der Reihe stand. Die beiden Antarawachen beobachteten sie scharf, hielten sie aber nicht auf.
»Als euer Vorfahr Oláran euch aus Vovinadhar führte, war damit auch der Widerstand gegen die Pläne der Herren der Ordnung erloschen. Für lange Zeit hörten die Lamazhabin auf ihre Erschaffer und wagten es nicht, gegen sie aufzubegehren. Im Gegenteil – ihre Sorge vor den Folgen eines offenen Widerstands führte schließlich dazu, dass sie den Göttern der Ordnung recht gaben und ihr auch in den Herzen eurer Brüder und Schwestern zu Verrätern wurdet.« Sie drehte sich zu Alcarasán, der sie feindselig musterte. »Aber das hat sich geändert. Es fing während deiner Abwesenheit an. Die Anführer der vier
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