Runlandsaga - Wolfzeit
bat Enris ruhig.
Seine Worte besaßen eine eigenartige Wirkung auf den jungen Mann. Er hob den Kopf und starrte Enris an.
»Meine Geschichte ...« murmelte er.
»Ay«, wiederholte Enris. »Jeder hat eine. Erzähl uns deine. Erzähl sie, als wäre sie einem anderen passiert, wenn dir das leichter fällt. Wir wollen sie hören.«
Daniro wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds Blut und Rotz von Nase und Mund. »Du hast recht, Khor.«
Er atmete schwer aus. »Es stimmt, ich war der einzige Überlebende der Nesvaal . Ich hab tagelang auf einem Stück Treibholz ausgeharrt, das mich hinaus auf die offene See trieb. Die Hoffnung, dass ich jemals wieder festen Boden unter meinen Füßen spüren würde, hatte ich längst aufgegeben. Meine Knochen würden tief auf dem Meeresgrund verrotten, davon war ich überzeugt.«
Der Blick, mit dem er sie zwischen seinen tief in die Stirn hängenden Haarsträhnen musterte, verriet eine eigenartige Mischung aus Argwohn und Entschlossenheit. Enris war es, als könne er in diesem Blick eine Ahnung von den widerstreitenden Stimmen entdecken, die in diesem Mann um die Oberhand kämpften. Sollte er ihnen verraten, was in der Dunkelheit seiner Seele verborgen lag? Einerseits wünschte er sich, es endlich loszuwerden, aber was würde geschehen, wenn sie es wüssten?
»Auf Gedeih und Verderb dem ständigen Auf und Ab der gnadenlosen See ausgesetzt zu sein«, fuhr Daniro etwas leiser fort, »hätte für sich alleine schon gereicht, um bis ans Lebensende Albträume zu bekommen, wenn man nachts die Wellen der Brandung hört. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste.«
Er brach ab und hob den Kopf. Auch Suvare und Enris horchten auf. Schritte näherten sich.
»Ist alles in Ordnung, Khor?«
Daniro zuckte zusammen. Er wollte aufstehen, aber Suvare legte ihm eine Hand auf die Schulter. Teras´ Gestalt wurde sichtbar. Misstrauisch starrte der Alte auf den am Boden kauernden Mann herab, eine Hand in der Tasche seines schweren Mantels vergraben, die sich verdächtig ausbeulte. Enris hätte einen Eid darauf leisten können, dass der Bootsmann diesmal keine Kautabakrolle festhielt.
»Ay«, sagte Suvare, »unserem Gast ist nichts geschehen, und Daniro scheint wieder bei sich zu sein.«
»Wie schön für ihn«, brummte Teras. »Da geht´s mir doch gleich viel besser.«
Suvare wandte ihren Kopf, um zu sehen, wohin Neria verschwunden war.
»Teras, schau nach der Wolfsfrau und kümmere dich ein wenig um sie!«
» Ich ? Wieso denn ich?«
»Weil du hier störst.«
Die Haltung des Alten versteifte sich. »Ay, Khor!«
Der beleidigte Tonfall in seiner Stimme war nicht zu überhören. Mit einem langen, finsteren Blick auf den Schiffszimmermann schritt er an ihnen vorbei.
»Erzähl weiter«, forderte Suvare Daniro auf. Sie setzte sich zu ihm auf die Planken. Nach einem kurzen Moment des Zögerns tat Enris es ihr nach.
Sie ist so hart wie ein Feuerstein, dachte er. Als einzige Frau unter lauter rauen Seeleuten muss sie das bestimmt auch sein. Wie sollte sie sonst Respekt von ihnen bekommen? Und doch ist sie sich nicht zu schade, sich zu dem Mann zu setzen, über dessen Schicksal sie entscheiden wird, wenn der Morgen graut. Sie will es wirklich wissen, was ihn dazu getrieben hat, so völlig den Kopf zu verlieren. Vielleicht ist es genau das, weswegen ihre Leute sie achten. Sie sind ihr nicht gleichgültig, und sie spüren das.
Daniro schwieg eine Weile, als hätte ihn die Unterbrechung durch den Bootsmann so durcheinander gebracht, dass er erst einmal überlegen musste, wo er fortfahren wollte. »Das Unglück begann vor Tirona«, begann er schließlich zögernd.
Suvare und Enris sahen ihn erwartungsvoll an, ohne ihn weiter zum Reden aufzufordern. Es war, als ob sie sich wortlos darin einig wären, dass ihn jede weitere Zwischenbemerkung nur noch mehr ablenken würde.
»Alle Zeichen sprachen dafür, dass wir es bald mit schwerer See zu tun haben würden. Aber unser Khor stand unter Zeitdruck. Er wollte unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit an der Nordküste der Insel vor Anker gehen, um am nächsten Tag so früh wie möglich mit der Robbenjagd anzufangen. Redete dauernd davon, wie wir uns mit dem Erlös für das Fleisch und die Felle die Taschen füllen würden.« Kurz hielt er inne. Verbitterung stand in seinem Gesicht geschrieben. Als er weitersprach, bebte seine Stimme vor unterdrücktem Zorn. »Dieser gierige Narr! Er hatte uns alle auf dem Gewissen!«
Daniro wandte seinen Kopf von Suvare
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