Runlandsaga - Wolfzeit
Lauf der Dinge ist, wie alle Kreaturen es tun, die in der Lage sind, zu jagen und zu töten. Aber anstatt nach vorne zu blicken und weiterzugehen, macht er sich selbst krank, indem er ständig darüber grübelt.«
»Er hat damit gezeigt, dass er ein Gewissen besitzt«, erwiderte Enris. Neria fiel auf, dass er sich entrüstet anhörte. Er verstand sie wohl auch nicht. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.
»Ich hatte heute Nacht einen Dolch an meinem Hals«, entgegnete sie. »Und warum? Weil sein Gewissen ihn verrückt gemacht hat. Wenn er einer von uns Voron gewesen wäre, dann hätte er dem Geist seines Freundes ein Opfer dargebracht, um sich mit ihm zu versöhnen. Vor allem aber hätte er in dem Ritual darauf getrunken, selbst gerettet worden zu sein, anstatt sich dafür zu schämen, und hätte sein Leben weitergelebt. Kein zusätzlicher Schaden wäre angerichtet worden.«
Enris starrte sie mit offenem Mund an, ohne etwas zu erwidern.
Ist dies tatsächlich die Schicksalsgemeinschaft, die ich finden sollte, Ältester? Gehören gewöhnliche Menschen wie dieser Mann zu denjenigen, von denen du gesprochen hast, denjenigen, die nicht nur unseren Wald, sondern sogar ganz Runland vor der drohenden Vernichtung bewahren sollen? Wie kann jemand wie er, der kein Jäger ist, unsere Welt unter dem Dach der Blätter beschützen? Wenn du doch nur zu mir sprechen könntest, Weißer Wolf!
Doch weder eine Stimme noch ein Bild mochte in Nerias Geist entstehen. Die einzigen Worte, die lauter und lauter wurden, gehörten den Männern von Suvares Besatzung und den Flüchtlingen aus Andostaan, die nun wieder das Deck zu betreten begannen. Die Welt der Voron, die Nerias bisheriges Leben lang ihr Zuhause gewesen war, blieb ein schöner Traum, der längst wieder von den Aufregungen des neuen Tages vertrieben worden war.
3
Das Erste, was Pándaros auffiel, als er an Gersans Rücken vorbei in den hinteren Raum spähte, war das lodernde Feuer im Kamin. Im Gegensatz zu dem Zimmer, in dem der seltsame Händler dem Priester das Räucherwerk verkauft hatte, war dieser Raum hell erleuchtet. Wärme entströmte ihm, als hätte Gersan die Tür zum Sommer selbst geöffnet. Auf den zweiten Blick erkannte Pándaros einen breiten Küchentisch, auf dem sich allerlei benutztes und sauberes Geschirr stapelte. »Es wird höchste Zeit, das Wachs zu erhitzen«, brummte Gersan. Ohne seinem Gast weiter Beachtung zu schenken, trat er in den Raum. Der Priester folgte ihm.
Erst jetzt fiel ihm die Treppe an der rückwärtigen Wand auf, die in das obere Stockwerk führte, sowie im Schatten der Treppenstufen eine weitere Tür in den hinteren Bereich des Hauses. Am einen Ende des breiten Küchentischs stand ein wuchtiger Stuhl mit einer langgezogenen, verzierten Rückenlehne. Nach Pándaros´ Ansicht hätte dieser eher in die Halle des Ältestenrats von Sol oder den Empfangssaal eines Adligen gehört als in den Hinterraum eines windschiefen Handelshauses. Obwohl Gersan ihn nicht aufgefordert hatte, sich zu setzen, ließ sich Pándaros auf den Stuhl fallen. Vor ihm auf dem Tisch flackerten bei seiner Bewegung die brennenden Kerzen eines eisernen fünfarmigen Leuchters hin und her. Er stellte seinen Rucksack auf die Tischplatte.
»Ihr glaubt nicht, wie viel Arbeit heute noch anfällt«, fuhr Gersan fort. »Bis heute Abend muss ich ein weiteres Bündel Kerzen gezogen haben. Mehr als ein paar werde ich Euch nicht verkaufen können.«
Der Händler drehte sich zu ihm um und zog den Gürtel seines Morgenmantels fester, der sich wieder geöffnet hatte. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Wollt Ihr einen Schluck Holunderwein?«
Pándaros nickte, und Gersan schob ihm einen tönernen Becher hin. »Ich habe ein viel zu großes Feuer entfacht. Das war ein Fehler. Ohne etwas Kühles zu trinken hält man es in diesem Backofen kaum aus.«
Er bückte sich und hob eine Luke im Boden hoch. Für einige Augenblicke verschwand er im Raum darunter, um schließlich mit einer kleinen, staubigen Tonflasche zurückzukommen. Er entfernte den Wachspfropfen, mit dem sie verschlossen gewesen war, und goss Pándaros den Becher voll. »Zum Wohl!«
Der Holunderwein schmeckte ein wenig bitter. Dennoch nahm der Priester einen tiefen Schluck. Erst jetzt fiel ihm auf, wie durstig er seit seiner letzten Mahlzeit am Morgen geworden war. Mit dem zweiten Schluck leerte er den Becher. »Vielen Dank! – Gersan, um auf meinen verschwundenen Mitbruder zurückzukommen: Fällt Euch vielleicht
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