Runlandsaga - Wolfzeit
nach dem süßen Wein aus dem Trinkhorn, aber ihr Atem war dennoch frisch, und auf ihren Lippen lag trotz des nahen Lagerfeuers die Kühle der Nacht. »Mein Lied war gerade so schön wie die Frau, die es sich anhörte«, flüsterte sie. »So schön wie die Dunkelheit, aus der heraus du ins Licht der Flammen getreten bist.«
Trotz ihrer Verblüffung zögerte Suvare nur einen Moment, bevor sie den Kuss der Fremden erwiderte. Sie hielten einander fest, während die Musik ein weiteres Mal verklang, um nach einer kurzen Pause erneut anzuheben, diesmal zu einer Melodie, in die bald viele der um das Feuer Herumsitzenden mit lauter Stimme einfielen.
Obwohl die beiden nicht weit abseits von den anderen saßen, hörte Suvare den Gesang kaum. Wie aus weiter Ferne drang er an ihr Ohr, während ihr Mund auf den der unbekannten Frau traf, und sie mit beiden Händen in deren dichtes Haar griff. Auch wenn Dunkelheit herrschte, sie hatte den Lichtschein des Feuers darauf gesehen, als die Fremde unter dem Baum gestanden hatte, die Farbe von Weizen, von Sonnenstrahlen auf einem weiten Feld, die Farbe des Sommers, einer Zukunft trotz all des Schreckens und der Ungewissheit dieser Tage. Sie vergrub ihr Gesicht in diesem Versprechen, wollte so tief wie möglich darin eintauchen, nicht wieder zurück an die Oberfläche ihres Lebens kehren.
In der Umarmung mit dieser Frau spürte sie, wie die Mauer aus kalter Entschlossenheit und Härte, die sie um sich selbst errichtet hatte, Risse bekam. Tiefe Sehnsucht ergriff sie, sich fallen zu lassen, zusammen mit der Fremden. Wann, wenn nicht heute Nacht?
Doch gleichzeitig mit dem Druck der fremden Lippen auf den ihren durchfuhr sie Angst.
Wie hoch die Mauer bereits geworden war! Sie hatte sich abgeschlossen vom Rest der Welt, mit jedem Jahr ein wenig mehr. Sie war der Khor eines Schiffes. Jeden Tag war sie mit diesem Satz aufgewacht, jeden Tag war sie damit in die Koje ihrer Kajüte gefallen. Sie hatte frei sein wollen von all den Vorstellungen, die darüber herrschten, welche Berufe eine Frau ausüben könne und welche nicht. Während ihrer Kindheit hatte es sie begeistert, die Schiffe im Hafen von Yesat zu beobachten und darüber nachzusinnen, an welchen fremden Orten sie wohl vor Anker gehen mochten. Sie hatte selbst an Bord eines Schiffes arbeiten wollen, um auf Deck zu stehen, während sich das Hauptsegel vor ihr im Wind blähte und die Planken unter ihren Füßen im Rollen der Wellen knarrten, als ob die kleine, hölzerne Welt um sie herum lebendig sei. Ein Schiff war wie eine Kreuzung mit zahllosen Wegen in die lockende Ferne.
Aber kein Khor hatte sie damals anheuern lassen. Eine Frau an Bord würde nur Unglück bringen, hieß es. Und selbst wenn auch manche keinen Aberglauben bemühten, so waren doch alle davon überzeugt, dass sie nur die Männer verrückt machen würde, und das wollte keiner riskieren. Der große Witz daran war, dass Männer sie kaum erregten.
Diese Frau, in deren Umarmung sie sich so unvermittelt befand, war wie das Geschenk eines Unbekannten, vielleicht der Schicksalsherrin selbst – aber was würde geschehen, wenn sie die Mauer tatsächlich einriss? Vielleicht war das Bollwerk bereits zu einem Stützpfeiler ihres Lebens geworden, ohne den alles zusammenbrechen würde, was sie sich in mühevoller Arbeit aufgebaut hatte.
Vielleicht.
Doch der Atem der fremden Frau auf ihren Wangen vertrieb jedes vielleicht, jeden weiteren Gedanken an ihre Angst und ihre Beherrschung. Mit geschlossenen Augen schob sie sich ihr entgegen, ihre Zungen berührten sich, und ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, als die Frau zubiss und gleichzeitig ihren Kopf nach hinten riss.
Das hatte sie nicht erwartet. Die blonde Fremde hatte mit ihrem gepflegten, offenen Haar und ihrem Auftreten als Sängerin so harmlos wie viele der Frauen aus den besser gestellten Kaufmannsfamilien gewirkt. Ihr Griff aber war wie der eines Menschen, der körperliche Auseinandersetzungen oder zumindest harte Arbeit gewohnt war.
Trotz aller Überraschung nahm Suvares Erregung nicht ab, im Gegenteil. Ihre Entschlossenheit, den Dingen des Lebens als Khor zu begegnen, wankte in diesem Sturm und fiel, so wie die Steine der sie umgebenden Mauer aus Härte. Sie selbst kippte, sie fühlte sich noch immer auf dem umgefallenen Baumstamm sitzen, aber dennoch stürzte sie rückwärts nach hinten, hinein in eine tiefe Schlucht. Dennoch ängstigte dieser Fall sie nicht, denn der eiserne Griff der Frau in ihre Nackenhaare war
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