Runlandsaga - Wolfzeit
du mich umbringen wolltest! Machen wir uns nichts vor, es hieß: entweder du oder ich. Also steig wieder zurück in dein Grab und lass mich in Ruhe! Ich hab dich schließlich nicht dazu gezwungen, uns an den Weißen Klippen aufzulauern.
Suvare merkte kaum, wie sie schneller ging.
Sie seufzte.
Es wäre ja auch wirklich zu einfach gewesen, wenn die Gespenster ihrer Erinnerungen auf ihren Befehl hin wieder verschwunden wären, als ob sie den ersten morgendlichen Hahnenschrei gehört hätten!
Leider ist es nicht so einfach, und das weißt du genau. Ihr hattet ihn soweit gebracht. Du hattest ihn soweit gebracht.
Und wenn schon! Jetzt war er ins Totenboot gestiegen. In der Welt der Lebenden würde ihn keiner vermissen.
Das fröhliche Singen erklang unverhofft dicht an Suvares Ohr. Sie blickte auf und sah, dass sie in eine Gruppe von jungen Leuten geraten war, die sich laut lachend anfeuerten, ein weiteres Trinklied anzustimmen. Niemandem schien es aufzufallen, dass sie nicht dazu gehörte.
Gut so. Das war schließlich der Grund, weshalb sie die Tjalk noch einmal verlassen hatte – um in einer Masse von fremden Gesichtern unterzutauchen und nachdenken zu können. Nicht dass Enris ihr Vorhaltungen gemacht oder sie auch nur vorwurfsvoll angesehen hätte. Aber es reichte ihr, zu wissen, dass er und der Junge bei der Folterung dabei gewesen waren.
Also hatte sie den beiden gesagt, sie sollten es sich in ihrer Kajüte für die Nacht bequem machen, und war alleine von Bord gegangen.
»Jetzt kommt schon«, schrie ein Mädchen neben ihr. Tiefrote Flecken blühten auf den Wangen ihres ansonsten blassen Gesichts. Nach Suvares Dafürhalten war sie zu jung, um in der Vellardinnacht betrunken durch die Straßen zu ziehen.
»Das waren doch nicht alle Lieder, die ihr kennt, oder? Los, noch eins!«
»Ay, noch eins!«, kreischte eine Frau neben ihr.
»Also gut!«, grölte ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren, der gerade einen tiefen Zug aus einem Weinschlauch genommen hatte und ihn nun wie einen erbeuteten Schatz über seinen Kopf stemmte. »Ein Lied kenn ich noch, und ihr bestimmt auch. Ist zwar aus dem Süden, aber was soll´s! Auf Satja!«
»Auf Satja!«, brüllten die anderen begeistert, dass Suvare die Ohren klangen. Der Name der Sonnengöttin aus den Südprovinzen war ihr bekannt, schließlich hatte sie oft genug Wein von dort verschifft. Nach einer alten Legende aus Lilinsat war es die Sonne selbst gewesen, die den Menschen die Frucht des Weinstocks zum Geschenk gemacht hatte.
Der junge Mann, der das Lied vorgeschlagen hatte, ließ sich nicht lange bitten und fing sofort mit der ersten Strophe an, während ein anderer ihm den Weinschlauch aus den Händen riss und ihn sich an seinen Mund setzte. Der Rest stimmte in den Gesang mit ein, und wenn auch bestimmt nur die Hälfte der Gruppe die Worte des Liedes auswendig kannte, so waren doch jedenfalls alle bemüht, die Strophen so laut wie möglich auf die nächtliche Straße hinauszuschmettern.
»Auf Satja woll´n wir unsre Gläser heben!
Die hehre Frau, sie schenkte uns den Wein,
Ihr Himmelsglanz erwärmt am Hang die Reben,
Schließt ihre Strahlen in sie ein,
So dass uns selbst in kalter Winternacht,
Wenn Dunkelheit sich schwer auf unsre Herzen legt,
In ihrem Trank sich findet Sommers Pracht,
Vergangner Sonnentage Glut sich in uns regt.
Gepriesen sei heut´ Satjas Trank!
Aus Trauben rot und Trauben weiß,
Erhobnen Glases zollen wir ihr Dank
Und loben ebenso der Winzer Fleiß!«
Das Ende des Liedes mündete in begeistertes Johlen.
»Auf Satja!«, rief die Frau neben dem betrunkenen Mädchen. Sie hielt den Weinschlauch, der eben in ihre Hände gewandert war, vor sich und wollte etwas von seinem Inhalt auf den Boden gießen, wie es üblich war, wenn man einem Gott ein Trankopfer überlassen wollte. Der Blonde aber, auf dessen Idee der Gesang zu Satja zurückgegangen war, schnappte sich den Schlauch gerade noch, bevor etwas davon herausfließen konnte, und stimmte eine neue Strophe des Liedes zur selben Melodie an, die er sich vielleicht gerade selbst ausgedacht haben mochte.
»Ein Lob auf sie! Doch ist sie wohl nicht hier,
Um das zu trinken, was doch rechtens ihr gehört.
Drum nehm das Opfer ich nun selber mir,
Bevor´s verdirbt – was sie bestimmt nicht stört!«
Dröhnender Beifall und Gelächter waren der Lohn des Spaßvogels, der einen tiefen Zug aus dem Schlauch nahm und sich dann mit übertriebener Dankbarkeit tief in alle Richtungen verbeugte.
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