Runlandsaga - Wolfzeit
verstand, wenn sie ihr auch bekannt vorkam. Sie vermutete, dass es sich um eine Mundart aus Varnam oder dem Wildland handelte. Es war die hohe, klare Stimme einer Frau, aber Suvare konnte im Dunkeln nicht sehen, von woher sie erklang. Wahrscheinlich befand sich die Sängerin auf der anderen Seite des breiten Lagerfeuers.
Das Lied, das über den Platz hallte, klang fröhlich, aber dennoch besaß es gleichzeitig einen seltsam verhaltenen Unterton. Es passte so gar nicht zu den lustigen Trinkliedern, die Suvare auf ihrem bisherigen Weg durch die Stadt gehört hatte.
Langsam trat sie näher an das Lagerfeuer heran. Hitze schlug ihr entgegen. Während die letzten Töne des Liedes verklangen, setzte sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm und blickte in die Flammen.
Sie war nicht die Einzige. Neben ihr saß ein eng umschlungenes Pärchen, aber die beiden hatten keine Augen für das prasselnde Feuer vor ihnen, sondern nur für einander. Immer wieder blitzten im Dunkeln die Augen von jemandem auf, der sich ebenfalls ans Feuer setzte oder sich erhob, um frisches Holz auf die Flammen zu werfen. Stimmengewirr von Gesprächen lag über dem Klang der Instrumente, die inzwischen ein neues Lied angestimmt hatten, aber diesmal sang niemand dazu.
Mit einem Mal hatte Suvare das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der sie das Paar neugieriger Augen vermutete. Am Stamm eines der Bäume auf dem Platz lehnte jemand. Das nahe Feuer schien auf das Gesicht einer Frau. Ihre langen hellblonden Haare fielen ihr offen bis über die Schultern. Sie wich Suvares Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn wortlos. Einen Moment lang sahen sich beide an. Der flackernde Lichtschein der Flammen tanzte in den Augen der Fremden. In einiger Entfernung gesellte sich eine harte Rahmentrommel zu den Flöten und trieb sie zu schnellerem Spiel an.
Unvermittelt stieß sich die Frau von dem Baum ab und schritt auf Suvare zu, als hätte sie nur darauf gewartet, bis diese sie ansehen würde. Sie streckte ihre Hand aus, die ein Trinkhorn umfasst hielt. »Auf die Vellardinnacht!«
Suvare hatte die Stimme der Frau sofort erkannt. Es war die Sängerin, deren Lied sie eben vernommen hatte. Eigentlich hatte sie es immer vermieden, ein angebotenes Getränk zu probieren, das sie nicht kannte. Aber diesmal ertappte sie sich dabei, dass sie nicht einmal einen Blick auf den Inhalt des Horns warf. Sie nahm es an sich, wobei sie weiterhin der fremden Frau ins Gesicht sah, und setzte es an ihren Mund.
Es war gewärmter Wein aus dem Süden, von einer offenbar sehr süßen Traube. Suvare nahm einen tiefen Schluck.
»Danke«, murmelte sie. Sie wusste nicht warum, aber ihr Kopf fühlte sich ziemlich leer an. Wenn es diese Frau auf ein Gespräch anlegte, dann würde sie bestimmt enttäuscht werden.
Die Wärme des Weins breitete sich in ihrem Körper aus. Sie reichte das Trinkhorn der Frau zurück, die es sofort ebenfalls an ihren Mund setzte.
Nachdem sie es in einem Zug geleert hatte, ließ sie sich neben Suvare auf dem Baumstamm nieder. Sie drehte das Horn in ihren Händen. »Du bist nicht aus Menelon, oder?«
Nun, da sie sprach, klang ihre Stimme tiefer als vorhin beim Singen – volltönend und klar. Ohne Zweifel wusste die Frau, wie sie diese einsetzen musste, um noch in einiger Entfernung von anderen gehört zu werden. Suvare fragte sich, ob die Fremde wohl ihren Lebensunterhalt als Sängerin bestritt. Doch aus irgendeinem Grund bezweifelte sie, dass sie zum fahrenden Volk gehörte. »Sieht man mir das so sehr an?«, beantwortete sie die Frage.
Ein Lächeln spielte um den Mund der Fremden und betonte das energische Kinn mit dem Grübchen in seiner Mitte. »Du trägst Seemannskleidung.«
»Die haben auch Hafenarbeiter an.«
Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau blieb. »Du wirkst auf mich nicht wie jemand, der im Hafen arbeitet. Wenn es nicht so ungewöhnlich wäre, dann würde ich denken, dass du zur Mannschaft eines Schiffes gehörst.«
»Ich bin Khor auf einer Tjalk«, sagte Suvare langsam, ohne ihre Augen von der Frau zu nehmen.
Wenn diese überrascht war, dann ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich habe dich beobachtet. Du bist ans Feuer gekommen, als ich gerade mein Lied sang. Ich konnte es dir ansehen, dass du es mochtest.«
»Es war wunderschön«, gestand Suvare. »Aus welchem Land ...«
Noch bevor sie weitersprechen konnte, hatte sich die Unbekannte zu ihr gebeugt und sie auf den Mund geküsst. Sie roch ein wenig
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