Rushdie, Salman
schier krank vor Sorge um meinen Vater bin, mir nun auch
noch Gedanken um euch machen und mich darum kümmern, dass ihr beide euer wahres
Ich wiedererlangt? Ihr habt doch hoffentlich nicht vergessen, dass ich erst
zwölf Jahre alt bin, oder?»
Der Bär
ließ sich wieder auf seinen vier Pfoten nieder. «Ist schon okay», sagte er.
«Solange ich in Bärengestalt bleibe, kannst du mich ruhig Hund nennen.»
«Und
solange ich ein Hund bin», sagte der Hund, «darfst du mich gern Bär nennen.
Aber es stimmt auch, dass wir hier in der Welt der Magie nach einem Weg suchen
wollen, den Fluch zu brechen, der auf uns liegt.»
Nobodaddy
klatschte in die Hände. «Oh, prima», rief er. «Eine Suche! Ich liebe Suchen.
Und hier haben wir gleich drei Suchen auf einmal! Denn du bist doch auch auf einer
Suche, junger Mann, nicht wahr?», fuhr er fort, noch ehe Luka ein Wort sagen
konnte. «Du suchst schließlich nach einem Weg, deinen Vater zu retten. Du
willst, dass ich, dein verhasster Nobodaddy, wieder verblasse, damit dein Vater
aufs Neue er selbst wird. Du willst mich vernichten, oder nicht, kleiner Mann?
Du willst mich umbringen, auch wenn du nicht weißt, wie. Nein, eigentlich
weißt du es schon. Du kennst den Namen des einzigen Dings auf der Welt, ob
magisch oder real, mit dem gelingt, was du dir wünschst. Und selbst wenn du es
vergessen hättest, wärest du gerade von deinem Freund, dem redenden Bären,
wieder daran erinnert worden.»
«Du redest
vom Lebensfeuer», sagte Luka. «Das meinst du doch, nicht? Das Lebensfeuer, das
oben auf dem höchsten Gipfel der Wissensberge brennt.»
«Bingo!
Volltreffer! Hundert Punkte!», rief Nobodaddy. «Das gewaltige Inferno, die
Verbrennung dritten Grades, die Selbstentzündung, die Flamme der Flammen. O
ja.» Vor lauter Vergnügen machte er einen Luftsprung, legte einen flotten
Schuhplattler hin und jonglierte dabei mit dem Panamahut. Luka musste zugeben,
dass Raschid Khalifa selbst ganz genau so ein kleines Tänzchen aufzuführen
pflegte, wenn er allzu zufrieden mit sich war. Nur fand Luka es ziemlich merkwürdig,
dass man durch den Tänzer hindurchsehen konnte.
«Aber das
ist doch bloß eine Geschichte», warf er leise ein.
«Bloß eine
Geschichte?», wiederholte Nobodaddy mit echtem Entsetzen. «Nur ein Märchen? Ich
traue wohl meinen Ohren nicht. Gerade von dir, junger Spund, hätte ich so eine
dumme Bemerkung nicht erwartet. Bist doch schließlich selbst ein Tropfen vom
Genie der Fantasie, ein Stoßseufzer des Schah von Bläh. Unter allen Jungen
solltest gerade du wissen, dass der Mensch ein Geschichten erzählendes Wesen
ist, das allein in Geschichten seine Identität findet, seinen Lebenssinn, das
Lebensblut. Erzählen Ratten Geschichten? Kennt der kleine Zeck einen
narrativen Zweck? Elefantasieren Elefanten? Du weißt genau, dass sie das nicht
tun. Im Menschen allein brennt ein Verlangen nach Büchern.»
«Aber
trotzdem, das Lebensfeuer ... das ist doch nun wirklich bloß ein Ammenmärchen»,
riefen Bär der Hund und Hund der Bär im Chor. Empört richtete sich Nobodaddy
auf. «Sehe ich vielleicht», wollte er wissen, «wie eine Fee aus? Oder wie ein
Elf? Sprießen mir Spinnwebflügel auf den Schultern? Seht ihr an mir auch nur
einen Hauch Feenstaub? Ich sage euch, das Lebensfeuer ist so echt, wie ich es
bin, und nur die unauslöschliche Feuersbrunst kann gewähren, was ihr euch wünscht.
Sie verwandelt Bären in Menschen, Hunde in Hundsmenschen, und sie wird mein
Ende sein. Luka! Du kleiner Mörder! Allein bei diesem Gedanken blitzen deine Augen!
Wie aufregend! Ich stecke mitten unter Mördern! Also schön, worauf warten wir
noch? Fangen wir an! Los geht's! Zack, zack, marsch, marsch! Uns bleibt keine
Zeit zu verlieren!»
In diesem
Moment hatte Luka ein Gefühl, als ob ihn jemand sanft an den Sohlen kitzelte,
am Horizont ging die silbrige Sonne auf, und etwas Beispielloses, nie Dagewesenes
begann mit dem zu geschehen, was nicht Lukas normale, echte Umgebung war,
jedenfalls nicht so richtig. Warum zum Beispiel leuchtete die Sonne silbern?
Und warum war alles viel zu bunt, zu laut und roch zu stark? Selbst die bunten
Leckereien auf dem Karren des Süßigkeitenverkäufers an der Ecke sahen aus, als
würden sie merkwürdig schmecken. Überhaupt war schon die Tatsache, dass Luka
den Karren des Süßigkeitenverkäufers sehen konnte, Ausdruck seiner seltsamen
Lage, stand der Karren doch immer an der Kreuzung, gerade außer Sichtweite
von Lukas Haus, und doch war er hier,
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