Rushdie, Salman
direkt vor ihm, mit seinen merkwürdig
bunten, merkwürdig süß schmeckenden Leckereien und den merkwürdig blitzenden,
merkwürdig brummenden Fliegen, die ihn so merkwürdig umsummten. Wie war das
nur möglich?, fragte sich Luka. Denn obwohl er keinen einzigen Schritt getan
hatte, schlief dort der Süßigkeitenverkäufer unter seinem Karren, weshalb sich
der Karren doch ganz offensichtlich auch nicht bewegt haben konnte. Und wie war
die Kreuzung hierhergekommen, ahm, soll heißen, wie war er zur Kreuzung
gelangt?
Er musste
nachdenken und wandte dazu die goldene Regel an, die ihm ein Lehrer beigebracht
hatte, Mr. Sherlock nämlich, sein Pauker für Physik, ein für hiesige Verhältnisse
stets zu warm angezogener Mann mit Pfeife und Vergrößerungsglas: Schließe
das Unmögliche aus, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein - wie
unwahrscheinlich sie auch klingt. Was aber, dachte Luka, mache ich,
wenn das Unmögliche übrig bleibt, wenn das Unmögliche die einzige Erklärung
liefert? Er beantwortete sich seine Frage nach Mr. Sherlocks goldener Regel: Dann muss
das Unmögliche die Wahrheit sein. Und in diesem Fall lautete die unmögliche
Erklärung: Wenn ich mich selbst nicht bewege, muss sich die Welt
bewegen. Er sah auf seine kribbelnden Füße. Es stimmte! Unter
seinen nackten Sohlen glitt der Boden dahin und kitzelte ihn dabei sanft: Schon
hatte er den Süßigkeitenverkäufer weit hinter sich zurückgelassen.
Er sah zu
Hund und Bär hinüber, die sich benahmen, als wären sie im Eisstadion und hätten
Schlittschuhe an den Füßen; sie glitten und schlitterten über die dahinrollende
Straße und stießen dabei überraschte Protestlaute aus. Luka wandte sich an Nobodaddy.
«Sie machen das, stimmt's?», warf er ihm vor, doch Nobodaddy riss die Augen
auf, breitete die Arme aus und erwiderte mit Unschuldsmiene: «Was denn? Wie
denn? Gibt's ein Problem? Ich dachte, wir hätten es eilig.»
Das
Schlimmste oder vielleicht auch das Beste an Nobodaddy war, dass er sich immer
genau wie Raschid Khalifa benahm. Sein Mienenspiel war das von Raschid, auch
die Bewegungen seiner Hände, das Lachen, ja, er spielte sogar das
Unschuldslamm, genau wie Raschid, wenn ihm ein Missgeschick passiert war, wenn
er unrecht hatte oder eine besondere Überraschung plante. Nobodaddys Stimme
war Raschids Stimme, seine wabbelige Plauze war Raschids Bauch, und er begann
sogar, Luka zu verwöhnen, wie es für Raschid so typisch war. Sein Leben lang
hatte Luka gewusst, dass seine Mutter die Regeln aufstellte, weshalb bei ihr
Vorsicht geboten war, während er Raschid, ehrlich gesagt, immer ein bisschen
zu weichherzig gefunden hatte. Konnte es denn sein, dass Raschids Charakter
auf Nobodaddy abfärbte, auf seine Möchtegern-Nemesis? War das der Grund, warum
dieser schauerliche Anti-Raschid Luka anscheinend zu helfen versuchte?
«Okay,
halten Sie die Welt an», befahl Luka. «Es gibt da ein paar Dinge, über die wir
uns im Klaren sein müssen, bevor irgendwer mit Ihnen irgendwohin geht.»
Er meinte,
hoch oben und weit fort das Geräusch einer Maschine zu hören, die leise
quietschend und knirschend zum Stillstand kam; seine Füße kribbelten nicht
mehr, und Hund und Bär hörten auf, durch die Gegend zu schlittern. Sie hatten
schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt und standen, ob durch Zufall oder
nicht, fast genau an der Stelle, an der Luka Captain Aag angeschrien hatte, als
er sich mit Raschid die traurige Parade der Zirkustiere in ihren Käfigen
ansah. Die Stadt wurde allmählich wach. Rauch stieg von den Imbissbuden auf,
in denen starker, süßer Tee zubereitet wurde. Einige Ladenbesitzer waren früh
dran, klappten die Fensterläden auf und gaben den Blick auf langgestreckte,
schmale Höhlen voller Stoffe, Lebensmittel und Arzneien frei. Ein Polizist in
dunkelblauen Shorts ging gähnend mit einem langen Stock in der Hand vorüber.
Kühe schliefen noch auf den Bürgersteigen, ebenso einige Menschen, doch auch
Fahrräder und Motorroller sausten bereits über die Straßen. Ein proppenvoller
Bus fuhr zum Industriegebiet, in dem früher die Traurigkeitsfabriken gewesen
waren, aber in Kahani hatte sich manches verändert, und so gehörte auch die
Traurigkeit nicht mehr zu den wichtigsten Exportgütern der Stadt wie noch zu
jener Zeit, als Harun klein gewesen war. Wehmutsfische waren nicht mehr gefragt,
stattdessen zog man besser schmeckende Produkte aus ferneren Gegenden vor, den
Grinse-Aal aus dem Süden etwa, das Fleisch der
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