Rushdie, Salman
maximal
neunhundertneunundneunzig Leben sammeln konnte), als sich der Alte vom Fluss
erneut mit seinem Terminator in der Hand auf dem Damm blicken ließ. In
panischer Hast schaute sich Luka nach einem Versteck um und versuchte zugleich
verzweifelt, sich daran zu erinnern, was ihm sein Vater über den Alten erzählt
hatte, bei dem es sich offenbar doch um keine der von Raschid Khalifa
erfundenen Gestalten handelte - oder gab es den Alten in dieser Welt der Magie
etwa, gerade weil Raschid Khalifa ihn erfunden
hatte?
«Der Bart
vom Alten wallt wie ein Fluss, Und fließt ihm hinab bis auf den Fuß»,
so hatte
Raschid die Geschichte erzählt.
«Er steht
auf dem Bund, hält dich mit 'ner Knarre in Bann, Der fieseste Alte, dem man nur
begegnen kann.»
Und da war
er tatsächlich, dieser Uralte mit seinem langen, weißen Wallebart und einer
riesigen Wümme, kam an Land und stieg den Bund hinauf zum Uferweg. Luka
versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, was ihm der Schah von Bläh über
diesen grausamen Flussdämon erzählt hatte. Irgendwas darüber, dass man dem
Alten Fragen stellen sollte. Nein, Rätsel, das war's! Raschid liebte Rätsel,
Tag um Tag, Nacht um Nacht und Jahr um Jahr hatte er Luka mit Rätseln
gepiesackt, bis Luka alt genug war, ihn zurückzupiesacken. Raschid saß abends
gern in seinem Lieblingsknautschsessel, und dann sprang Luka ihm auf den Schoß,
obwohl Soraya schimpfte und sagte, der Sessel sei nicht stabil genug, das
Gewicht von ihnen beiden auszuhalten. Luka war das egal, er wollte bei seinem
Vater sitzen, und der Sessel war noch nie zusammengebrochen, bislang
jedenfalls nicht, und nun sollte sich all diese Rätselraterei doch noch als
ganz nützlich erweisen.
Genau, der
Alte vom Fluss war ein leidenschaftlicher Rätselrater, das hatte Raschid
erzählt, der Alte sei süchtig nach Rätseln, so wie Spieler süchtig nach dem
Spiel, Alkoholiker nach Alkohol sind, und nur auf diese Weise lasse er sich
besiegen. Das Problem war bloß, nahe genug heranzukommen, um überhaupt etwas
sagen zu können, da der Alte den Terminator in der Hand hielt und entschlossen
schien, Luka ohne Umschweife zu erschießen.
Luka
huschte von einer auf die andere Seite, aber der Alte kam direkt auf ihn zu,
und obwohl zuerst Bär der Hund und dann Hund der Bär versuchten, sich ihm in
den Weg zu stellen, schossen ein paar Krrraaawummmms sie in
Stücke, und sie mussten warten, bis sie sich wieder zusammengefügt hatten;
gleich darauf wurde auch Luka getroffen und musste erneut die ganze Prozedur
über sich ergehen lassen, in Millionen blitzende Bruchstücke zu zerspringen und
sich dann mit diesen leisen Sauggeräuschen wieder zusammenzusetzen, wobei Luka
erleichtert feststellte, dass ein Leben zu verlieren nicht dasselbe war wie
Sterben. Schließlich machte er sich aufs Neue daran, noch mehr Leben
einzusammeln, hatte sich aber die genaue Stelle gemerkt, an der der Alte in
Sicht kam, ehe er zum Uferweg hinaufsprang, und als Luka schließlich an die
sechshundert Leben gesammelt hatte, hörte er auf, brachte sich in Position und
wartete.
Kaum
tauchte der Kopf des Alten auf, schrie Luka aus Leibeskräften
«Rätsel-raten-Rätsel-raten!», was, wie er von den Abenden mit Raschid wusste,
von alters her die Aufforderung an jeden Rätselfreund ist, sich einem Wettkampf
zu stellen. Der Alte vom Fluss blieb wie angewurzelt stehen, dann aber zog ein
breites, fieses Lächeln über sein Gesicht. «Wer will sich da mit mir anlegen?»,
fragte er mit krächzender Gackerstimme. «Wer glaubt, er ist dem Riddlemaster
überlegen, dem roi des enigmes, dem Pahelianka-Padishah,
dem Rätselmeister? - Kennst du das Risiko? - Begreifst du, was auf dem Spiel
steht? Der Einsatz ist hoch, könnte nicht höher sein! - Sieh dich an, du bist
ein Nichts, ein Kind. Ich weiß nicht mal, ob ich die Herausforderung überhaupt
annehmen will. - Nein, mach ich nicht, du bist meiner nicht würdig. - Naja,
gut, wenn du drauf bestehst. - Aber falls du verlierst, Kind, gehören alle
deine Leben mir. - Hast du verstanden? - Alle deine Leben sind mein. Dann ist
unwiderruflich Schluss. Hier, am Anfang, wirst du dein Ende finden.»
Und so
lautete die Antwort, die Luka ihm hätte geben können, was er aber nicht tat:
«Und Ihr, grässlicher alter Mann, versteht zuallererst einmal nicht, dass mein
Vater der eigentliche Rätselmeister ist, und er hat mir alles beigebracht, was
er weiß. Außerdem versteht Ihr nicht, dass unsere Rätselkämpfe Stunden
dauerten, Tage,
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