Rushdie, Salman
älteste Frage im Buch.»
(«Das als
Sphinx bekannte weibliche Ungeheuer», hatte Raschid Khalifa seinem Sohn Luka
erzählt, «hockte vor den Toren Thebens; und jeden Reisenden, der passieren
wollte, forderte die Sphinx auf, ihr Rätsel zu lösen. Wer die Antwort nicht
kannte, wurde umgebracht. Eines Tages kam dann ein Held des Weges und kannte
die Lösung.» - «Was hat die Sphinx da gemacht?», hatte Luka seinen Vater
gefragt. «Sie stürzte sich in den Tod», erwiderte Raschid.
«Und wie
lautete die Antwort?», fragte Luka, doch musste Raschid Khalifa gestehen, er
könne die vermaledeite Geschichte noch so oft hören, aber die Lösung des
Rätsels wolle ihm einfach nicht einfallen. «Also diese alte Sphinx», sagte er,
wenn auch nicht allzu traurig, «die hätte mich bestimmt gefressen.»)
«Los
doch», sagte Luka dem Alten vom Fluss. «Eure Zeit ist um.» Der Alte musterte
ihn mit panischem Blick. «Ich könnte dich ganz einfach umpusten», sagte er,
aber Luka schüttelte den Kopf. «Ihr wisst, dass Ihr das nicht könnt», sagte er.
«Jetzt nicht. Nie mehr.» Dann gestattete er sich einen leicht verträumten
Gesichtsausdruck. «Mein Vater konnte sich auch nie an die Lösung erinnern»,
sagte er. «Das hier aber ist meines Vaters magische Welt, und Ihr seid sein
Rätselrater. Also könnt Ihr nicht wissen, woran er sich nicht erinnern kann.
Und jetzt teilt Ihr mit der Sphinx dasselbe Los.»
«Permination»,
sagte der Alte vom Fluss leise. «Ja, das ist nur gerecht.» Ohne Umschweife oder
Sentimentalitäten hob er den Terminator, stellte den Regler auf volle Kraft,
hielt die Waffe auf sich gerichtet und drückte ab.
«Die
Lösung lautet: der Mensch», verriet Luka der leeren Luft, als die winzigen,
blitzenden Bruchstücke des Alten zu nichts verwehten. «Er ist es, der morgens
als Baby auf allen vieren krabbelt, mittags als Erwachsener auf zwei Beinen
geht und einen Stock benutzt, wenn er alt wird. Der Mensch, ist die Antwort,
und die kennt doch nun wirklich jeder.»
Mit dem
Verschwinden des Torwächters wurde auch das Tor sichtbar. Wie durch Zauberei
erschien am Rand des Bunds ein spalierbedeckter, von Bougainvilleablüten gesäumter
Gewölbebogen, der den Blick auf eine elegant geschwungene Treppe hinab zum
Flussufer freigab. In der linken Torsäule prangte auf halber Höhe ein goldener
Knopf. «Wenn ich du wäre, würde ich den drücken», riet ihm Nobodaddy. «Warum?»,
fragte Luka. «Ist das so etwas wie eine Türklingel, mit der man sein Eintreffen
ankündigt?» - «Nein», erwiderte Nobodaddy geduldig. «Damit speicherst du deinen
Fortschritt, damit du beim nächsten Mal, wenn du wieder ein Leben verlierst,
nicht noch einmal herkommen und aufs Neue gegen den Alten vom Fluss antreten
musst. Könnte ja sein, dass er dann nicht mehr auf deinen kleinen Trick hereinfällt.»
Luka drückte den Knopf und kam sich dabei ziemlich blöd vor, doch wie zur
Antwort erklang eine Melodie; rund um den Torbogen wurden die Blumen größer und
bunter, und in Lukas Gesichtsfeld tauchte ein neuer Zähler auf, diesmal in der
oberen rechten Ecke, ein einzähliger Zähler mit einer Eins. Er überlegte, wie
viele Levels er wohl schaffen musste, entschied aber, dass nach seiner dummen
Frage zum Speicher-Button jetzt nicht der richtige Moment für eine weitere
Frage war.
Nobodaddy
führte den Jungen, den Hund und den Bären vom Bund zum linken Ufer des
Zeitflusses hinab. Trittkegel hüpften den Reisenden entgegen und hofften auf
einen Kick - «Autsch! Aua! Autsch!», quiekten sie in freudiger Erwartung, doch
jedermann war mit den Gedanken woanders. Hund und Bär redeten aus vollem Hals
mit ihren neuen Stimmen und waren halb begeistert, halb entsetzt über Lukas
Wettkampf und seinen Sieg über den Alten vom Fluss. Es gab so viele Wie und Was und Mann und Wahnsinn in ihrem
Geplapper, dass Luka gar keine Chance hatte, ihnen zu antworten. Außerdem war
er mit seiner Kraft am Ende. «Ich muss mich hinsetzen», sagte er, und schon
gaben die Beine unter ihm nach. Mit einem Plumps landete er im Flussstaub, der
in einer kleinen goldenen Wolke um ihn aufstieg und sich rasch zu einer Kreatur
formte, einer winzigen, lebendigen Flamme mit Flügeln. «Füttert mich, und ich
lebe», stieß sie hitzig hervor. «Gebt mir Wasser, und ich sterbe.»
Die
Antwort auf diese Rätselfrage war offensichtlich. «Feuer», sagte Luka leise,
doch der Feuerkäfer wurde ganz aufgeregt. «Sag das nicht!», brummte er. «Wenn
du weiter aus voller
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