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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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nicht für etwas gehalten, zu
dem man selbst dann noch in der Lage war, wenn man gerade von einer riesigen
Kanone, groß wie aus einem Science-Fiction-Film, zersplittert worden war. Kaum
aber waren die Millionen blitzender Fragmente zu einem Häuflein
zusammengesunken, neben dem Hund der Bär und Bär der Hund verzweifelt
aufschrien, setzten sich die Millionen Bruchstücke bereits wieder zusammen,
wobei sie kleine, blitzende Sauggeräusche machten und schwuppdiwupp, hast du
nicht gesehen, war er wieder da, unversehrt und er selbst; und er stand immer
noch auf dem Bund neben Nobodaddy, der ihn amüsiert anblickte, während der Alte
vom Fluss nirgendwo mehr zu sehen war.
    «Wie gut
für dich», sagte Nobodaddy nachdenklich, «dass ich dir für den Anfang ein paar
Extraleben mitgegeben habe. Du solltest lieber noch mehr sammeln, ehe der Alte
zurückkommt. Und überlege dir auch schon mal, wie du gegen ihn vorgehen willst.
Er ist nämlich ein ziemlich übel gelaunter Kerl, aber es gibt Mittel und Wege,
ihn schachmatt zu setzen. Du weißt ja, wie so etwas geht.»
    Und Luka
merkte, dass er es tatsächlich wusste. Er blickte sich um. Hund der Bär und Bär
der Hund hatten schon angefangen. Bär wühlte die ganze Gegend um und spürte
überall kleine, knackige Knochen auf, die je ein Leben wert waren, Knochen,
die Bär in null Komma nichts zermalmte und verschluckte, doch es gab auch größere
Knochen, die sich nicht so leicht aus der Erde zerren ließen und allerhand
Zermalmen verlangten, dafür aber auch pro Stück zehn oder hundert Leben wert
waren. Hund der Bär schnüffelte derweil unter den Bäumen am Bundrand und suchte
nach den Hundert-Leben-Bienenkörben, die unter den Zweigen verborgen waren,
wobei er zwischendurch jede Menge goldener Ein-Leben-Bienen schnappte und
verschlang. Leben gab es überall und in allem, als Stein getarnt, als Gemüse,
Busch, Insekt oder Blume, als vergessener Schokoriegel oder Sprudelflasche; ein
vorüberhuschendes Kaninchen konnte ebenso ein Leben sein wie eine im Wind
schwebende Feder. Leicht gefunden, leicht gesammelt, waren Leben das
Wechselgeld dieser Welt, und verlor man ein paar, machte das nichts, denn es
gab genügend neue.
    Luka
begann mit der Jagd. Er probierte es mit seinen Lieblingstricks. Gegen
Baumstümpfe kicken und an Büschen rütteln war immer gut. In die Luft springen
und mit beiden Beinen hart auf den Boden aufschlagen ließ Leben aus den Bäumen
rieseln und wie Tropfen aus leerem Himmel regnen. Am besten aber gefiel es Luka,
nach den merkwürdigen Kegelgestalten mit dem runden Hintern zu treten, die
müßig auf dem hochgelegenen, eleganten, von Bäumen überschatteten Uferweg
dahinhüpften. Verpasste man ihnen einen Tritt, fielen sie nicht hin, sondern
schwankten heftig, kicherten, kreischten vor Vergnügen und riefen vor lauter
Begeisterung: «Mehr! Mehr!», während die Leben, die Luka suchte, wie glänzende
Käfer aus ihnen hervorhuschten. (War der Vorrat an Lebenskäfern verbraucht,
sagten die Trittkegel bekümmert: «Nix mehr, nix mehr», ließen die kleinen Köpfe
hängen und hoppelten betrübt davon.)
    Wenn die
Leben, die Luka fand, auf dem Bund landeten, nahmen sie die Gestalt kleiner
goldener Räder an und rollten sofort davon, sodass Luka ihnen nachjagen, dabei
aber aufpassen musste, nicht vom Deich in den Zeitfluss zu fallen. Noch während
er sich Hände voll Leben schnappte und in die Taschen stopfte, woraufhin sie
sich mit leisem Pling auflösten und zu einem Teil von
ihm selbst wurden, bemerkte er eine Veränderung in seinem Gesichtsfeld.
Irgendwie hatte sich ein kleiner, dreistelliger Ziffernzähler in der oberen
linken Ecke seines Blickfelds installiert; er war da, immer an derselben
Stelle, egal, wohin er sah und wie fest er sich auch die Augen rieb; und
während er die vielen Leben schluckte oder in sich aufnahm, zählte der Zähler
und machte dabei, davon war Luka überzeugt, ein leises, surrendes Geräusch.
Doch diese Neuerung leuchtete ihm durchaus ein. Schließlich musste er den
Zählerstand kennen, denn wenn ihm die Leben ausgingen, tja, dann war das Spiel
zu Ende, und vielleicht war es dann auch mit dem anderen Leben vorbei, dem
echten, dem, das er brauchte, wenn er zurück in die reale Welt wollte, in der
sein Vater schlief und dringend seine Hilfe benötigte.
    Er hatte
dreihundertfünfzehn Leben gesammelt (der dreistellige Zähler in der oberen
linken Ecke seines persönlichen Bildschirms ließ darauf schließen, dass er

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