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Rushdie, Salman

Rushdie, Salman

Titel: Rushdie, Salman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luka und das Lebensfeuer
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für ein seltsamer Gedanke, dass Götter ungezogen sein könnten.
Sollten Götter den Menschen, deren Götter sie waren, denn nicht mit gutem Beispiel
vorangehen? «In der alten Zeit war das anders», sagte Raschid. «Früher führten
sich diese mittlerweile arbeitslosen Götter meist ebenso ungezogen auf wie die
Menschen, sogar noch schlimmer, da sie als Götter keinerlei Hemmungen zu haben
brauchten. Sie waren selbstsüchtig, unhöflich, zudringlich, eitel, gemein,
gewalttätig, gehässig, wollüstig, unersättlich, habgierig, faul, unehrlich,
trickreich und dumm, und dank ihrer übernatürlichen Kräfte konnten sie in ihrem
Benehmen maßlos sein bis zum Exzess. Wenn sie habgierig waren, verschlangen sie
eine ganze Stadt, und wurden sie wütend, konnten sie mit ihrem Zorn die Welt
überfluten. Mischten sie sich in menschliche Angelegenheiten, brachen sie
Herzen, entführten Frauen und begannen Kriege. Waren sie faul, schliefen sie
tausend Jahre, und wenn ihnen der Sinn nach irgendwelchen Spielchen stand,
litten und starben Menschen. Manchmal tötete ein Gott sogar einen anderen
Gott, weil er dessen Schwachstelle kannte, und fiel über ihn her wie ein Wolf
über seine Beute.»
    «Vielleicht
hat es ja sein Gutes, dass sie an Bedeutung verloren haben», sagte Luka, «nur
wird dadurch das Herz der Magie zu einem merkwürdigen Ort.»
    «Es gibt
keinen merkwürdigeren im ganzen Universum», pflichtete ihm Raschid bei.
    «Aber was
ist mit den Göttern, an die wir Menschen noch glauben?», fragte Luka. «Leben
die auch hier im Herzen der Magie?»
    «Ach, du
liebes bisschen, nein», hatte Raschid Khalifa gesagt. «Die weilen noch unter
uns.»
    Lukas
Erinnerung an Raschid verblasste, während er nun über eine Traumlandschaft
voller zerbrochener Säulen und Statuen hinwegflog, zwischen denen sich
allerlei Geschöpfe aus Fabeln und Sagen tummelten. Da - dort drüben! - standen
zwei riesige, rumpflose Beine aus Stein, die letzten Überbleibsel von
Ozymandias, dem König der Könige. Und dort zottelte ihnen ein gewaltiges,
struppiges Ungeheuer entgegen, das ein wenig an die Sphinx erinnerte, obwohl
es männlich und gefleckt war, ein Mann mit dem Leib einer Hyäne, der allein mit
seinem grässlichen Gekecker alles zerstörte, woran er vorüberkam, ob Haus oder
Tempel, Berg oder Baum. Und dort drüben - ja, genau da! - war die Sphinx
höchstpersönlich! Bestimmt war sie das, die Löwin mit dem Frauenkopf! Und wie
sie Fremde anhielt und darauf drängte, mit ihnen zu reden ... «Wirklich
schade», sagte Soraya, «aber sie stellt jedem dasselbe alte Rätsel, bloß hat
niemand Lust, ihr zu antworten, weil alle die Lösung seit Ewigkeiten kennen.
Sie sollte sich mal was Neues einfallen lassen.»
    Ein
Riesenei spazierte auf langen, dotterfarbenen Beinen vorbei. Ein geflügeltes
Einhorn flatterte durch die Luft. Ein seltsam dreigliedriges Geschöpf - teils
Krokodil, teils Löwe, teils Nilpferd - watschelte zum Kreisrunden Meer. Beim
Anblick eines kleinen Gottes in Hundegestalt wurde Bär ganz aufgeregt. «Das
ist Xolotl», warnte ihn Soraya. «Halt dich lieber von ihm fern. Er ist ein
Gott, der Unglück bringt.» Bär der Hund schien maßlos enttäuscht. «Warum kommt
das Unglück in Hundegestalt daher?», klagte er. «In der realen Welt ist ein
treuer Hund für seinen Herrn das größte Glück. Kein Wunder, dass diese
Unglücksgötter erledigt sind.»
    Für Luka
war nicht zu übersehen, dass es um das Herz der Magie nicht allzu gut bestellt
war. Die ägyptischen Pyramiden fielen in sich zusammen, im nordischen Viertel
lag eine umgestürzte Riesenesche, die ihre drei gewaltigen Wurzeln in den
Himmel reckte. Und falls es sich bei den Wiesen dort drüben tatsächlich um die
elysischen Gefilde handeln sollte, wo die Seelen der großen Helden bis in alle
Ewigkeit lebten, warum war dann das Gras so braun? «Diese Gegend sieht ziemlich
heruntergekommen aus», sagte Luka, und Soraya nickte bekümmert. «Die Magie
schwindet aus dem Universum», erklärte sie. «Wir werden nicht mehr gebraucht,
zumindest glaubt ihr Menschen das. Eines Tages aber werdet ihr wach, und wir
sind fort; dann sollt ihr spüren, wie es sich in einer Welt lebt, wo Magie
nicht einmal mehr in den Gedanken existiert. Doch die Zeit schreitet voran,
und es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Würdest du gern», fragte sie,
und ihre Miene hellte sich auf, «den Wettstreit der Schönen sehen? Ich glaube,
jetzt ist genau die richtige Tageszeit dafür.»
    Der
Teppich senkte

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