Rushdie Salman
«Lasst den jungen Mann leben, zumindest so
lange, bis wir die Botschaft gelesen haben, die er uns
überbringen will.» Der seidene Baldachin wurde in die
Ecken des Raumes gezogen, und über ihnen, auf dem mit
Kissen gepolsterten Wipfel des sandsteinernen Baumes,
saß in der Haltung königlicher Gelassenheit und von Gelächter geschüttelt Abul-Fath Jalaluddin Muhammad Akbar, der große Mogul, und bot sich wie ein übergroßer
Papagei auf einer Vogelstange ihren Blicken dar.
Er war in seltsam unruhiger Laune erwacht, und auch die
ge-schicktesten Gefälligkeiten seiner Geliebten vermochten ihn nicht zu besänftigen. Irgendwie hatte sich mitten
in der Nacht eine Krähe ins Schlafgemach der Königin
Jodha verirrt und das herrschaftliche Paar mit ihrem verängstigten Gekrächze geweckt, das in den Ohren des
schlaftrunkenen Monarchen wie eine Ankündigung des
Weltenendes klang. In einem schrecklichen Augenblick
streifte eine schwarze Schwinge seine Wange. Als die
Diener die Krähe endlich hinaus gescheucht hatten, fühlte sich der Regent wie gerädert, und der anschließende
Schlaf war von schlechten Omen erfüllt. Einmal schien
jene apokalyptische Krähe ihren gelben Schnabel in seine
Brust zu schlagen, um sein Herz herauszuziehen und aufzufressen, so wie Hind von Mekka auf dem Schlachtfeld
von Uhud das Herz des gefallenen Hamza gegessen hatte,
des Onkels des Propheten. Wenn ein feige geworfener
Speer einen derart mächtigen Helden zu fallen vermochte, konnte auch er selbst jeden Moment durch einen Pfeil
enden, der tödlich, gelb und schwarz wie die Krähe aus
dem Dunkeln heran-flog. Und wenn eine Krähe an seinen
Wachen vorbeigelangte, um ihm ihre Schwingen ins Gesicht zu schlagen, warum sollte dies dann nicht auch einem Mörder gelingen?
Er war voller Todesahnungen und so der nahenden Liebe
schutzlos ausgeliefert.
Der Spitzbube, der vorgab, britischer Botschafter zu sein,
hatte sein Interesse geweckt, weshalb sich Akbars Laune
schon wieder etwas besserte, als er Abul Fazl befahl, sich
den Fremden ein wenig vorzuknöpfen. Eigentlich war
Abul Fazl ein überaus umgänglicher Mensch, doch konnte niemand in ganz Sikri so gut wie er den wilden Mann
markieren. Während der Herrscher, verborgen über den
Köpfen der beiden Männer, über Frager und Befragtem,
aufmerksam verfolgte, welchen Spaß sich Abul Fazl mit
seinem Besucher gönnte, verflüchtigten sich endlich die
Wolken der Nacht und waren bald ganz vergessen. Der
Scharlatan hält sich gut, dachte der Herrscher und war,
als er nach der quastenbehangenen Kordel griff, um den
seidenen Baldachin beiseitezuziehen und den Männern
unter ihm seine Anwesenheit zu offenbaren, in höchst
leutseliger Stimmung, doch nichts hatte ihn auf jenes
Gefühl vorbereitet, das ihn schlagartig überwältigte, als
er in die Augen des gelbhaarigen Besuchers schaute.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Des Herrschers Puls
raste wie bei einem verknallten jungen Ding, sein Atem
flog, Farbe schoss ihm in die Wangen. Wie attraktiv dieser junge Mann doch war, wie selbstbewusst er wirkte,
wie stolz. Außerdem hatte er etwas an sich, das man mit
Augen allein nicht erkennen konnte: ein Geheimnis, das
ihn faszinierender machte als hundert Höflinge. Wie alt
er war? Der Herrscher konnte fitrangi-Gesichter schlecht
einschätzen. Er mochte ebenso gut fünfundzwanzig Jahre
jung wie dreißig Jahre alt sein, älter als unsere Söhne,
dachte der Herrscher, aber zu alt, einer unserer Söhne zu
sein, um sich dann zu fragen, warum ihm solch ein Gedanke in den Sinn kam. War der Fremde eine Art Hexenmeister, sinnierte er, schlug er ihn in seinen mysteriösen Bann? Nun, auf das Spiel konnte er sich einlassen,
daran war nichts Schlimmes, schließlich war er zu gewieft, um sich aus dem Hinterhalt erstechen zu lassen
oder von einem vergifteten Trank auch nur zu probieren.
Er wollte seinen Gefühlen nachgehen, wollte feststellen,
was sie hervorgerufen hatte. Ein Leben der Macht wird
notwendigerweise mit einem völligen Mangel an Überraschungen bestraft. Ausgeklügelte Systeme und Vorrichtungen sorgten dafür, dass der Herrscher niemals überrascht wurde, und doch hatte ihn dieser Mogor dell’
Amore überrumpelt, ob nun willentlich oder nicht. Allein
aus diesem Grund verdiente er, dass man ihn besser kennenlernte.
«Lest uns den Brief der Königin vor», verlangte Akbar,
woraufhin sich der «Botschafter» mit übertrieben theatralischer Geste verbeugte und die Rolle
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