Russen kommen
eben Informationen, die nur Zuckerbrot mir geben kann. Zuckerbrot hingegen spottet, ihm sei es am liebsten, wenn er von mir nichts höre und nichts sehe. Dann nämlich könne er in Ruhe arbeiten. Aber ich weiß: Eigentlich mag er mich.
Droch linst auf meinen Bildschirm. »Wie war es am Arlberg?«, fragt er, und ohne die Antwort abzuwarten, fährt er fort: »Dolochow. Was willst du mit dem?«
»Russen-Story«, erwidere ich und berichte, was ich recherchiert habe. »Wie macht sich der neue Chefredakteur so?«
Droch kratzt sich mit seinen langen, schmalen Fingern an der Stirn, er ist gewiss der attraktivste Rollstuhlfahrer, den ich kenne. Es ist gar nicht so lange her, da hat ihn jemand auf der Straße angesprochen und wollte sein Gesicht für irgendeinen Werbespot für die Generation »Fünfzig plus«. Den Rollstuhl könne man ja wegretuschieren, hat der Typ gemeint, aber Droch muss etwas derart Grobes geantwortet haben, dass der Scout blitzartig wieder verschwunden ist.
»Gar nicht so übel. Er kennt sich bloß nicht aus im Zeitungsgeschäft. War immer nur beim Fernsehen.« Droch verzieht das Gesicht, vom Fernsehen und vom Fernsehjournalismus hält er nicht viel. »Da ist wichtiger, welche Krawatte du trägst, als das, was du sagst. Kann schon sein, dass ihm deine Russen-Geschichte gefällt.«
»Und dir?«
Droch schüttelt zweifelnd den Kopf. »Ich komme noch aus einer Generation, in der man ganz anderes mit den Russen verbunden hat als viel Geld und Skiurlaub.«
»Kommunismus. Stalin. Gulag«, sage ich und befürchte, Droch hält mir einen seiner langen Vorträge über den Unsinn des Sozialismus, weil er mit der menschlichen Natur, der Gier, dem Egoismus, dem Machtstreben einfach unvereinbar sei. Was er für vernünftig hält, finde ich einfach reaktionär. Und schon wäre wieder einmal ein Streit vom Zaun gebrochen. Ich will mir meine Illusion einer friedlichen solidarischen Welt nicht nehmen lassen, auch wenn ich weiß, dass sie bloß eine Illusion ist. Was soll daran naiv sein?
Doch Droch sagt bloß: »Das auch.«
Ich war schon gewappnet und sehe ihn erstaunt an.
»Nach dem Krieg haben sich die Russen bei uns schrecklich aufgeführt«, ergänzt mein Journalistenfreund.
»Da warst du noch gar nicht geboren.«
»Aber mein ältester Bruder. Sie sind einmarschiert, er ist an diesem Tag fünf Jahre alt geworden, und sie haben einfach seine Geburtstagstorte mitgenommen. Das hat er sich sein Leben lang gemerkt. Er ist einer dieser Passiv-Sportfanatiker, sieht sich alles, was mit Sport zu tun hat, im Fernsehen an. Und bis heute: Wenn ein Russe gewinnt, ärgert er sich und erzählt diese alte Geschichte. Natürlich ist damals viel mehr passiert als der Diebstahl einer Geburtstagstorte.«
Noch eine Facette meiner Geschichte.
»Besser, man rührt nicht an diesen alten Dingen«, meint Droch. »Die meisten, die den Durchmarsch der Russen erlebt haben, sind jetzt schon tot. Aber Vergewaltigung und Raub und die ständige Angst vor Verschleppung, die sitzen tief.«
»Sie haben uns von den Nazis befreit«, erinnere ich ihn.
Droch sieht mich spöttisch an. »Ja. Und zum Dank dafür hätten wir unsere neue Freiheit gleich an sie verschenken sollen. Ich kann mich noch ein wenig an die Besatzungszeit erinnern, vor den Russen haben wir uns gefürchtet, die waren anders als die Amerikaner mit ihrer Schokolade.«
Die Redaktionssitzung hat sich mit dem neuen Chefredakteur verändert. Unser ehemaliger ist häufig aufgesprungen, im Raum herumgetigert, hat Redakteuren Stichworte zugerufen, doziert, Hektik verbreitet. Ich glaube, er hat zu viele alte Journalistenfilme gesehen. Jetzt leitet er eine neu gegründete Tageszeitung, ich wünsche der Belegschaft viel Vergnügen. Unser neuer, Klaus Feldner, hat die letzten drei Jahre eine der Hauptnachrichtensendungen im Fernsehen moderiert, er ist Mitte dreißig, einer mit einem telegenen Gesicht. Als bekannt wurde, dass er die Chefredaktion übernimmt, wurde im »Magazin« schnell darüber gespottet, dass in Zukunft wohl noch mehr Bilder und noch weniger Text die Seiten füllen würden.
Feldner führt die Redaktionskonferenz ruhig. Wir haben uns erst einmal, bei dem kurzen Umtrunk zu seiner Begrüßung, gesehen. Er geht die geplanten Storys Ressort für Ressort durch, fragt nach. Schließlich bin ich an der Reihe. Ich schlage eine Russen-Reportage vor, immerhin seien die Russen jetzt allgegenwärtig.
Er sieht mich nachdenklich an. Oder tut er bloß so, als ob er denken würde?
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