Russen kommen
fotografieren zu wollen, schwinge ich ab. Die ersten paar hundert Meter sind sturzfrei bewältigt. Immerhin. Ich fotografiere, lasse eine Skigruppe an mir vorbei, dann geht es weiter. Der Schnee lässt sich schwer schieben, aber was verlange ich, es ist April. Und eigentlich kann das Skifahren nirgendwo schöner sein. Kein Mensch jetzt weit und breit, die nächsten Schwünge gelingen großartig, tief in die Knie, sage ich mir vor, dann gehen die Carver wie selbst ums Eck. Mira allein in den Bergen. Ob Dolochow und seine junge Begleiterin auch Ski fahren? Was sonst sollen sie hier tun? Oskar hat einen Geschäftstermin. Warum dauert der so lange? Und Sorger … Verdammt, ich habe nicht aufgepasst, das Stück hier ist steil, das sind wir gestern nicht gefahren, braune Flecken, da kommt schon die Erde heraus, ich werfe mich um die Kurve, steif, in die Knie, Mira, noch ein Bogen, nur nicht stehen bleiben, ich werde schneller, dort drüben ist zu viel Schnee, ein ganzer Haufen zusammengefahrener Schnee, da darf ich nicht hin, ich schaffe keinen Schwung, ich fahre auf den Schneehaufen zu, immer schneller, ich muss mich hinlegen, einfach hinlegen, bremsen, abschwingen, es reißt mir die Beine auseinander, ich schlage auf, der eine Ski ist in der Luft, der andere irgendwo, ich schlittere dahin, komme schließlich bei einem anderen Schneehaufen zum Liegen. Ein Bein, ein Ski ragen nach oben, noch immer miteinander verbunden, ein anderes Bein samt Skischuh ohne Ski im Schnee, ich bewege mich vorsichtig.
Es scheint nichts gebrochen zu sein. Es scheint nichts wehzutun. Aber vielleicht ist das auch nur der Schock. Ich erinnere mich an die Geschichte einer Anwältin, sie hatte einen Autounfall, ist am Straßenrand gesessen, wollte sich schnäuzen und hat da erst gemerkt, dass sie keine Nase mehr im Gesicht hatte. Mira, das da ist nicht die Autobahn. Zwei Männer schwingen neben mir ab.
»Was passiert?«, fragt einer.
Ich schüttle den Kopf. »Mein Ski.«
Der andere Mann stapft einige Meter zur Seite, zieht den Ski aus dem Schneehaufen und bringt ihn mir. »Wirklich alles okay?«
Ich nicke und rapple mich auf. Das geht. Glück gehabt. Mein zweiter Sturz heute. Aber diesmal ganz sicher russenfrei. Die beiden Männer fahren rasch weiter, zum Glück. So können sie nicht sehen, wie lange es dauert, bis ich wieder in die Bindung finde. Den Rest des steilen Hanges rutsche ich einfach seitwärts hinunter, nicht elegant, aber einigermaßen sicher. Ich bin versehentlich ein Stück einer schwarzen Abfahrt gefahren, jetzt sehe ich, wo die blaue weitergeht, ich habe nicht wie gestern die Umfahrung genommen, sondern den direkten Weg ins Tal. Nichts passiert. Trotzdem zittern mir die Knie, und als ich unten ankomme, bin ich erleichtert.
An der Rezeption kann ich mich fast nicht zurückhalten, von meinem Abenteuer zu erzählen. Gerade noch rechtzeitig wird mir klar, dass eine Menge der Gäste die schwarze Abfahrt ganz freiwillig und ohne Probleme nimmt und dass jedenfalls viele gerne mit ihren Skierlebnissen prahlen. Die Rezeptionistin hat eine Nachricht für mich. Vesna. Sie ist schon angekommen. Und mit ihr Valentin Freytag. Vesna wartet an der Hotelbar auf mich. Warum hat sie mich nicht angerufen? Ich schaue auf mein Mobiltelefon. Der Sturz hat den Akku gelockert. Wenn nicht mehr passiert ist …
Vesna winkt vor der Bar. Wann immer sie mit Valentin Freytag unterwegs ist, achtet sie darauf, gut angezogen zu sein. Der blaue Hosenanzug steht ihr, aber Jeans hätten es auch getan. Sei nicht überkritisch, Mira, du magst Freytag doch. Vesnas Unsicherheit ist es, die mich irritiert. Ich kenne sie so nicht, sie ist die Selbstbewusste, Entscheidungsfreudige, diejenige, die handelt. Und jetzt zaudert sie schon mehr als ein halbes Jahr, ob sie sich endgültig mit Freytag zusammentun oder – auf die eine oder andere Weise – bei ihrem Halilovi c bleiben soll. Ich küsse sie auf beide Wangen.
»Mira Valensky, bist richtig braun geworden«, sagt sie anstelle einer Begrüßung. Die Angewohnheit, mich bei Vor- und Nachnamen zu nennen, hat sie noch aus der Zeit, in der sie bei mir geputzt hat, ich ihr das Du angeboten habe und ihr das unpassend erschienen ist. Die Zeiten ändern sich. Jetzt putzt sie nur noch ganz selten »persönlich« bei mir, sie hat nun ein Putzunternehmen und seit einigen Monaten drei Mitarbeiterinnen – und zwei Mitarbeiter, Bosnier, weitläufige Verwandte, aber die putzen nur offiziell, inoffiziell kümmern sie sich um
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