Russendisko
Dort nahm er dann Kontakt mit einigen Schülern auf, erklärte ihnen seine unglückliche Lage und tauschte Stiefel und Uniform gegen ein paar Turnschuhe und Sportswear. In diesem Aufzug schlug er sich bis nach Berlin durch. Ohne Socken. Die darauf folgenden zehn Jahre seines Lebens verliefen sehr ruhig. Er fand einen Job bei einem Partyservice und mietete ein kleines Zimmer in einer Russen-WG. Der überzeugte Nichttrinker und Nichtraucher, diszipliniert durch seine lange Dienstzeit bei der Armee, lief nie der Polizei in die Arme und umgekehrt. Beim Partyservice machte er sogar Karriere: Er stieg vom Tellerwäscher zum Schichtbrigadier auf. Nach zehn Jahren harter Arbeit und sparsamen Lebens gelang es dem Fähnrich, die beträchtliche Summe von DM 20 000 unter dem Kopfkissen zurückzulegen. Mit diesem Geld erhoffte er für sich die Lösung des scheinbar einzigen Problems, das er noch zu bewältigen hatte, der persönlichen Resozialisierung durch eine generelle Legalisierung. Aber wie? Die alte Illegalenweisheit sagte ihm: durch eine Scheinehe. Man riet ihm zu einer Heiratsanzeige. Zuerst wollte er seine wahren Absichten nicht preisgeben. Eine ganz normale »typisch deutsche« Liebesannonce sollte es sein. Nachdem der Fähnrich monatelang den Anzeigenmarkt studiert hatte, um sich von der »deutschen Art« des Anzeigenschreibens ein Bild zu machen, erschien schließlich gleichzeitig in mehreren
Zeitschriften sein Einzeiler: »Schmusebär sucht Schmusemaus.«
Das Ergebnis war erstaunlich. Der arme Fähnrich war gefragter als »Ein älterer Herr lässt sich gerne von jungen Frauen anrufen«, der seit Jahren ein Dauerbrenner auf dem Berliner Anzeigenmarkt ist. Die meisten Schmusemäuse erwiesen sich als Frauen über vierzig, die eine deutlich überladene Beziehungskiste auf ihren Schultern trugen und dementsprechend frustriert waren. Der Fähnrich fühlte sich, schüchtern, wie er war, ihrer Problematik nicht gewachsen und machte regelmäßig einen Rückzieher.
Schließlich änderte er seine Taktik. In der nächsten Anzeige benutzte er das Wort »Belohnung«, was seiner Meinung nach die wahren Absichten des Bräutigams signalisierte. Es kam ein Anruf aus Eberswalde. Eine Russlanddeutsche sei für DM 10 000 zu haben, lautete das Angebot. Der Fähnrich fuhr nach Eberswalde, wo ein ganzes Dorf von Russlanddeutschen aus Kasachstan, inklusive Kleinkinder und Omas, zur Brautschau erschien. Der Fähnrich, durch seine langjährige Illegalität überaus misstrauisch und vorsichtig geworden, machte erneut einen Rückzieher. »Die Russinnen sind so romantisch«, erklärte er mir an dem Abend bei einem Glas Wodka, »selbst wenn sie nur wegen des Geldes heiraten, wollen sie, dass bei dem Bräutigam alles stimmt, und machen sich zur Brautschau hübsch.«
Kurz darauf lernte der Fähnrich einen Makler kennen. Der Perser aus Aserbaidschan versprach ihm, für DM 15 000 jede erdenkliche Scheinbraut zu besorgen und nach fünf Jahren gewissenhaft zu entsorgen, von einer Sozialhilfeempfängerin bis hin zur Berufstätigen, wenn es sein müsse. »Zwei Drittel des Geldes bekommt die Frau, ein Drittel bekomme ich. Komm mal bei mir vorbei, wir reden von Mann zu Mann«, lockte ihn der Perser. »Mein Büro ist im Forumhotel, und keine Angst, ich bin auch mit einer Deutschen
verheiratet, sie ist sogar Rechtsanwältin, wir arbeiten zusammen.«
Ich hielt diese Geschichte für einen großen Schwindel, und auch der Fähnrich überlegte es sich anders, als er bereits mit dem Geld in der großen Halle des Forumhotels stand, und kehrte um. Inzwischen sind in seiner WG alle der Meinung, dass er niemals heiraten wird. Er sei einfach zu schüchtern, zu wählerisch und außerdem zu nachdenklich. Zur Zeit unternimmt er gerade einen neuen Anlauf: Jeden Abend geht er in eine Diskothek in der Sophienstraße. Er tanzt nicht, steht nur an der Bar und beobachtet aufmerksam das Publikum. Wie er damit etwas erreichen will, verriet er mir nicht.
Beziehungskiste Berlin
Es wird oft behauptet, Berlin sei die Hauptstadt der Singles. Die Bewohner lachen darüber. Nur einem oberflächlichen Journalisten, der irgendwelchen Statistiken mehr traut als seinen eigenen Augen, kann so etwas einfallen. Die Statistik lügt, sie hat auch früher immer gelogen. Sie hat sich daran gewöhnt zu lügen. Berlin ist nicht eine Stadt der Singles, sondern eine Stadt der Beziehungen. Genau genommen ist die Stadt eine einzige Beziehungskiste, die jeden Neuankömmling sofort einbezieht. Alle
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