Russendisko
leben hier mit allen. Im Winter ist die Kiste unsichtbar, im Frühling taucht sie wieder auf. Wenn man sich Mühe gibt und die Beziehungen einer allein stehenden Person lange genug zurückverfolgt, wird man bald feststellen, dass die Person mindestens indirekt mit der ganzen Stadt verbandelt ist.
Nehmen wir zum Beispiel unsere Freundin Marina, obwohl an dieser Stelle jeder Freund und jede Freundin ein gutes Beispiel abgeben würde, aber nehmen wir trotzdem Marina, weil sie jeden Abend bei uns in der Küche sitzt und Einzelheiten aus ihrem Privatleben erzählt. So sind wir auch indirekt in ihre Geschichten verwickelt. Also Marina. Nachdem ihr Mann sie letztes Jahr wegen einer Ballerina sitzen gelassen hatte, deren Ballerine sich plötzlich in München bei einem Gastspiel in die Tochter seines besten Freundes verliebt hatte, die mit 23 Jahren allein und schwanger in tiefste Depressionen verfallen war, weil ihr Freund mit einer schönen Ägypterin durchgebrannt war, und die bei der Reisegesellschaft TUI gearbeitet hatte und auch TUI hieß... Aber zurück zu Marina: Ihr Mann war also weg und dadurch war auch ihre Existenz irgendwie bedroht. Seit etwa zehn Jahren studierte Marina an der TU SatellitenGeodäsie. Sie studierte und studierte und war inzwischen
bereits so gut, dass sie mit einem Blick auf die Planeten Mars oder Venus von jeder Kneipe aus haargenau die Schwerkraft ausrechnen konnte. Die ist nämlich überall anders. Aber ihre Diplomarbeit hatte sie noch immer nicht geschrieben. Nun aber brauchte Marina dringend einen Job. Sie verfasste blitzschnell ihre Diplomarbeit über ein lustiges Pärchen von Zwillingssatelliten, die gemeinsam die Erde umkreisen, und schickte drei Dutzend Bewerbungen ab. Bald meldete sich eine Baufirma, die einen Ingenieur suchte. Marina ging zu einem Vorstellungsgespräch und kehrte nicht nach Hause zurück. Ihre 14-jährige Tochter machte sich große Sorgen und rief uns um Mitternacht an. Marina kam erst am nächsten Tag wieder - mit einem neuen Job und einem neuen Mann. Das Vorstellungsgespräch hatte in einer Garage stattgefunden, erzählte sie uns hinterher. Der junge Bauunternehmer hatte vor kurzem seine Frau mit einem anderen erwischt und war daraufhin frustriert mit all seinen Sachen erst einmal in seine Garage gezogen, die ihm gleichzeitig als Büro seines Bauunternehmens diente. Er hatte also gerade eine schwierige Phase hinter sich und suchte jemanden, der ihm wieder auf die Beine half. Es war Liebe auf den ersten Blick. Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch wurde Marina sofort von ihm eingestellt, und sie gingen zusammen essen. Der junge Unternehmer verriet Marina seinen heimlichen Traum: ein Haus am Ufer des Schwarzen Meeres, mit Veranda und Blick auf die eigene Yacht. »Willst du mit mir auf meiner Veranda sitzen?«, fragte der Mann Marina ganz ernst. Er war fest entschlossen und duldete keine halben Sachen. »Ja, vielleicht«, sagte Marina, »wenn meine Tochter dabei mitspielen darf.« »Deine Kinder werden immer einen Platz auf meiner Veranda haben«, versicherte ihr der verliebte Unternehmer.
Am nächsten Tag zog er aus der Garage aus und in Marinas Wohnung ein. Am Anfang schien alles perfekt. Marina lernte
seine Eltern kennen und auch seine Exfrau, die ihr bei der ersten Begegnung einen Büschel Haare ausriss. Doch im Laufe der Zeit wurde es auf der Veranda immer enger. Marina konnte eine Rund-um-die-Uhr-Beziehung nicht länger als zwei Wochen aushaken. Der Mann zog in die Garage zurück. Sie brachte ihm jeden Tag etwas zu essen, wenn sie zur Arbeit fuhr. Einmal lernte sie dabei einen netten Polizisten kennen, nachdem ihr ein Unbekannter einen Regenschirm aus dem Auto geklaut hatte. Der Polizist verliebte sich auf der Stelle in Marina und lud sie zum Essen ein. Er rief sie alle fünfzehn Minuten an, erschien dann aber nicht zur Verabredung. Wahrscheinlich war der Mann im Dienst erschossen worden, dachte sich Marina. Inzwischen hatte ihre Tochter ihren ersten Freund in der Schule kennen gelernt, einen cleveren Burschen. Der Junge schenkte der Tochter einfach ein Handy, über das er sie dann mit heißen E-Mails bombardierte. Das bereitete Marina große Sorgen. Immer wieder schärfte sie ihrer Tochter ein, bloß aufzupassen. Niemand weiß genau, wozu diese Technik von heute fähig ist.
Und der neue Freund von Marina, ein indischer Computeringenieur, bestätigte das auch.
Die russische Braut
In den letzten zehn Jahren, die ich in Berlin verbrachte, habe ich viele
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