Russendisko
und hatten alle Spitznamen. Das Foyer auch, man nannte es »den Garten der Liebe«. Es hieß so, weil es dort im Winter immer warm war und das Kino kaum besucht wurde. Dort trafen wir uns fast jeden Tag und besprachen die wichtigsten Themen. Das interessanteste Thema damals waren nicht etwa Mädchen oder Drogen, sondern die Emigration. Unsere größten Helden waren jene, die es geschafft hatten, über die Grenze zu kommen. Irgendwie konnten wir uns mit diesen Menschen identifizieren, schließlich fühlten wir uns auch alle verfolgt, die Älteren von der Polizei, die Jüngeren von den Eltern. Bei meinem Freund, den wir Prinz nannten, wurde das Thema allerdings zur Manie. Er sammelte sämtliche Zeitungsberichte über Überläufer und klebte sie sorgfältig in eine Mappe. Er kannte sie alle, die schlaue DDR-Familie, die aus mehreren Klepper-Regenmänteln einen Heißluftballon genäht und damit die Grenze überflogen hatte, das Ehepaar aus Estland, das sich mit Gänseschmalz eingeschmiert hatte und hundert Kilometer weit nach Finnland geschwommen war. Zwei Tage waren sie im kalten Wasser, dafür aber dann den Rest des Lebens im sonnigen Finnland. Prinz kannte auch die Geschichte des Malers Sachanevich, der während einer Kreuzfahrt im Schwarzen Meer von einem Schiff gesprungen und so in die Türkei gelangt war. Er wusste von dem Bildhauer Petrov, der sich mit Bronze bemalt und für eine Statue ausgegeben hatte, die zu einer Ausstellung nach Paris geschickt wurde. Petrov verbrachte eine ganze Woche in einer Holzkiste, kam jedoch nie in Paris an. Bei einem Zwischenstopp in Amsterdam öffnete ein Zollbeamter die Kiste, weil ihr der
Geruch von Scheiße entströmte. Heraus kam der bemalte Petrov und bat als verfolgter Künstler um politisches Asyl. Vitalij, der Prinz, träumte von einem ähnlichen Coup und bereitete sich gründlich darauf vor. Mein anderer Freund, Andrej, genannt der Pessimist, erklärte jedoch alle seine Ideen für untauglich und lachte ihn aus. »Wir sind hier für immer versklavt, egal wie clever du deine Flucht anstellst, die Sowjets werden dich trotzdem zurückholen.«
Unerwartet für uns alle war Andrej dann der Erste, der aus dem »Garten der Liebe« in die große weite Welt türmte. Als der Papst Polen besuchte, konnten die Soldaten an der polnischweißrussischen Grenze die Gläubigen nicht zurückhalten. Für sie wurde daraufhin schnell eine Sonderregelung eingeführt: Die Pilger durften in kleinen Gruppen ohne Stempel mit einer Namensliste nach Polen. Der magere Pessimist sah damals mit seinem Bart und langen Haaren wie ein religiöser Fanatiker aus. Problemlos gelang es ihm, sich einer der Pilgergruppen anzuschließen. Kaum hatten sie die Grenze überschritten, trennte er sich von ihr und fuhr weiter in Richtung Deutschland, ohne den Papst eines Blickes zu würdigen. Er schlug sich bis nach Frankreich durch und lernte in der Nähe von Paris beim Trampen einen Russen kennen, der ihm weiterhalf. Pessimist ließ sich in Paris nieder und jobbte dort in einem russischen Buchladen. Seit fünf Jahren kann er von seiner Malerei leben.
Prinz saß währenddessen fast täglich am Arbat, der Haupttouristenstraße, und versuchte gemäß seiner neuesten Fluchtidee, ältere ausländische Damen anzubaggern. Sie sollten möglichst aus Schweden oder Finnland sein. Seiner Vorstellung nach mangelte es gerade dort an fähigen Männern. Kurz bevor er die letzte Hoffnung verlor, lernte er ein Mädchen aus Dänemark kennen, eine Journalistin. Sie nahm ihn schließlich mit nach Kopenhagen. Ich bekam daraufhin eine Ausgabe der Zeitung Dagens Nyheter zugeschickt, mit seinem
zahnlosen Grinsen auf der ersten Seite. »Dieser Mann hat all seine Zähne auf den Straßen von Moskau verloren«, lautete die Überschrift. In einem Brief berichtete mir Prinz, dass das dänische Parlament seinetwegen eine Sondersitzung einberufen hätte und dass man ihm politisches Asyl gewährt habe. Unlängst gründete er seine eigene Firma. Meine beiden Freunde haben sich inzwischen europäisiert, also sehr verändert. Wir unterhalten uns nur noch selten und wenn, dann per Internet.
F ä hnrichs Heirat
Mein Freund, ein ehemaliger Fähnrich der sowjetischen Armee, lebt seit zehn Jahren illegal in Deutschland. In dem für dieses Land so wichtigen Jahr 1989 verließ er, damals noch ein blutjunger Fähnrich, seinen Posten, kletterte über den Zaun und versteckte sich in der Sporthalle einer Mecklenburgischen Grundschule in der Nähe seiner Kaserne.
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