Russendisko
Sätzen sticht wie »Denken Sie doch mal über Ihre Zukunft nach« und »Sie können doch nicht ewig von Sozialhilfe leben«, wird Wladimir rot, kuckt zu Boden und schweigt wie ein Partisan in GestapoHaft. Nur einmal, als die Sozialfrau zu weit ging und anfing, an seiner Männlichkeit zu zweifeln, da verlor mein Freund dann doch die Beherrschung und gestand ihr seinen alten Traum: dass er eigentlich ein großer Geschäftsmann werden möchte und sich gut eine Zukunft als Restaurantbesitzer vorstellen könnte. »Aha!« Die Sozialfrau war begeistert: »Der Einstieg in die Selbstständigkeit! Das ist ganz in unserem Sinne! Wir werden Sie auf diesem schwierigen Weg voll unterstützen!«, sagte sie und verwies Wladimir an die Bildungsmaßnahme »Geschäftsmann 2000 im Ost-West-Einsatz für den Außenhandel«, die extra vom Senat für Sozialhilfeempfänger ausländischer Herkunft eingerichtet und finanziert wird. Dort, beim BIBIZ, was auf Litauisch Schwanz heißt, auf Deutsch jedoch Berliner Informations- und Bildungs-Zentrum bedeutet, studierte Wladimir zusammen mit anderen zukünftigen Geschäftsleuten. Die Gruppe bestand aus zwei älteren bulgarischen Damen, drei Vietnamesen und einem dicken Mädchen aus der Karibik. Ein halbes Jahr lang beschäftigten sie sich mit dem kleinen ABC des Geschäftemachens: Wirtschaftslehre, EDV, Businessenglisch etc. Danach bekam Wladimir ein Diplom und erschien mit seiner neu erworbenen Qualität als Geschäftsmann 2000
wieder bei der Sozialtante. Er besaß nun fast alle Voraussetzungen zur Verwirklichung seines Traums - das notwendige Wissen, den starken Willen zum Erfolg und sogar einen Euro-Führerschein. Ihm fehlte nur noch das Geld, denn ohne Geld gibt es keinen Ost-West-Außenhandel. Bald musste er wieder losziehen und Ablehnungs-Stempel von Tabakläden und Zeitungskiosken für seine Bewerbungsunterlagen sammeln. Zum Glück bekam seine Mutter dann eine Rente von der Bundesversicherungsanstalt bewilligt, die sie drei Jahre zuvor beantragt hatte. Mit dieser erheblichen Summe zahlte Wladimir den Abstand für einen türkischen Imbiss, der in einer abgelegenen Straße gerade pleite gegangen war. Dort beabsichtigte er, seinen Traum von einem eigenen Restaurant zu verwirklichen. Er renovierte alles selbst und bemalte die Wände und den Kachelfußboden mit abstrakter Kunst.
»Wenn ein Unternehmen die Herzen der Kundschaft erobern will, muss es auffallen und zwar in jeder Hinsicht«, erklärte er, als ich ihn kurz vor der Eröffnung in seiner Kneipe besuchte. »Wir machen eine internationale Küche: Deutsch, Chinesisch, Italienisch, Französisch...« »Und wer soll das alles kochen?«, fragte ich ihn. »Na, ich!«, sagte der gelernte Geschäftsmann 2000 und sah zu Boden. »Das ist im Grunde gar nicht so kompliziert, man muss nur die richtigen Saucen kennen.« Seine Entschlossenheit überzeugte mich, dass Wladimir immer die passende Sauce finden würde. »Wir erwarten ein junges, internationales Publikum und natürlich auch Touristen, die so was nirgendwo sonst kriegen können.« In diesem Moment betrat eine etwa achtzigjährige Frau das Lokal und fragte nach dem Klo. Auch dieser Kundenwunsch begeisterte Wladimir: »Da siehst du es«, sagte er anschließend zu mir, »wir liegen strategisch äußerst günstig. Die Toiletten werde ich demnächst auch noch ausbauen.«
Mein Freund glaubt fest, dass sein Unternehmen ihn
erfolgreich ins 21. Jahrhundert tragen wird, nur den richtigen Namen dafür hat er noch nicht gefunden. Die Stammgäste aus der »Jägermeister«-Kneipe gegenüber haben sich dagegen schon längst einen Spitznamen für seine Bude einfallen lassen: der Russenmafiapuff.
Nie wieder Weimar
Auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Thüringen fuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Weimar, um dort an einem Festival namens »Osteuropa im Wandel der Revolution und Konterrevolution« teilzunehmen. Zusammen mit zwei Dutzend anderen osteuropäischen Künstlern, Polen, Russen, Tschechen und Ukrainern. Unterwegs stellte sich bereits heraus, wie unterschiedlich unser Wandel war. Dementsprechend bildete unsere Gruppe eine ziemlich giftige Mischung. Nur der warme ukrainische Wodka sorgte für ein Minimum an Toleranz.
Die deutsche Kulturhauptstadt sah aus wie ein Stück Sahnetorte in einer Mikrowelle oder wie eine riesige Ausstellung, die gerade eröffnet wurde. Trotz 37 Grad im Schatten besichtigten wir in drei Tagen alles, was die Kulturhauptstadt anzubieten hatte: die neu
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