Russendisko
abholen.
Die 45 Minuten in der U-Bahn widme ich ein paar Gedanken zur Jugendkultur. Null Ergebnis. Ärgerlich, ich habe zu diesem Thema gar nichts zu sagen. Der Junge gegenüber blättert in einer Zeitschrift und grinst. Das ist es! Die Jugendkultur! Ich setze mich zu ihm und frage ihn, was er da Schönes liest. Einen Ikea-Katalog.
Alles klar, Gerät ist abgeholt und bereit. Der Film beginnt um 19.00 Uhr. Zehn Minuten vor sieben bin ich schon im Zuschauerraum. Ich setze mich in die dritte Reihe, genau gegenüber von dem großen Lautsprecher, und bereite alles für die Aufnahme vor. Um sieben beginnt der Film. Er handelt von einer Revolution auf dem Mars. Der Herrscher des Mars, bewaffnet mit einem Glasmesser, rennt einer jungen Frau mit wackelndem Arsch hinterher, die Frau macht den Mund auf. Daraus sollen jetzt die Hilfeschreie kommen, aber vergeblich halte ich mein Mikro in der Hand. Der Film ist absolut still und stumm. So stumm, wie es nur russische Stummfilme aus dem Jahre 1924 sein können.
Eine peinliche Situation. Im Saal herrscht Friedhofsstille. Ich nehme meine Sachen und gehe vorsichtig nach draußen, das Mikro in der Hand. Im Foyer werde ich von Mitarbeitern des Kinos ausgelacht. Sie hätten ja so tun können, als wäre nichts passiert. Es kommt schließlich nicht jeden Tag ein Rundfunkjournalist zu einem Stummfilm. Auf dem Weg nach Hause denke ich wieder über die Jugendkultur nach. Die Jugendlichen in der U-Bahn sehen für mich alle wie Beavis und Butthead aus. Zu Hause - MTV Björk weist mit dem Finger auf ein dickes Buch. Der Text auf dem Bildschirm lautet: Extra für diesen Clip hat Björk lesen gelernt. Drei Literaturredakteure haben mit Björk drei Monate lang gearbeitet. Tolle Leistung. Ich telefoniere wieder mit dem Zeitungskulturredakteur, er solle die Aufgabe etwas konkretisieren. Will er eine ernsthafte Untersuchung der Jugendkultur haben? Beschiss! Er meinte die Judenkultur, nicht die Jugendkultur. Am besten gehe ich heute noch einen trinken. Es war ein verlorener Tag.
Die Frau, die allen das Leben schenkt
Unsere Freundin Katja begeisterte sich für Castaneda. Sie las alle seine Bücher, die sie kriegen konnte, kaufte Meskalin- Kakteen und obendrein eine spezielle Heizlampe für DM 160,-. Sie fuhr oft zu geheimen Treffen, wo sie mit anderen Castaneda-Fans gemeinsame spirituelle Erfahrungen machte. Und das sogar mehrmals. Nach relativ kurzer Zeit konnte sie ohne jegliche Anstrengung ihr Bewusstsein von ihrem Unterbewusstsein und ihren Körper von ihrem Geist trennen. Auf diese Weise verschaffte sich Katja ständigen Zugang zur astralen Welt, in der sie viele interessante Persönlichkeiten kennen lernte, unter anderem Castaneda selbst. Es lief hervorragend, bis sich eines Tages der Geist und der Körper nicht wieder zusammenfanden und beide in getrenntem Zustand in die psychiatrische Abteilung der Königin-ElisabethHerzberg-Klinik in Lichtenberg eingeliefert wurden. Dort setzte man Katja mit Hilfe der modernen Medizin - wozu unter anderem eine »Schlagzeugtherapie« gehörte - wieder zusammen. Ihre Gesundheit normalisierte sich, doch der Zugang zur astralen Welt wurde ihr streng verboten. Unter Anleitung eines Arztes überdachte Katja ihr Leben gründlich und kam zu der Überzeugung, dass ihre Lebensaufgabe darin bestand, neues Leben in die Welt zu setzen. Bescheiden fing sie mit Hunden an. Ihr Mann, ein nicht besonders erfolgreicher Geschäftsmann, hatte gerade Pech mit einer neuen Geschäftsidee gehabt: Er wollte mit einem Getränkeverkauf bei der Love Parade reich werden. Irgendwelche Schurken hatten ihm jedoch einen Standplatz auf der falschen Straße verschafft. Den ganzen Tag wartete er vergeblich auf durstige Raver, aber stattdessen kam nur eine alte Frau vorbei, die ihm aus Mitleid eine warme Eislimonade
abkaufte. Nun saß er unglücklich auf sechzig Bier- und LimoKisten und wusste nicht, wie er sie wieder loswerden sollte. Katja überredete ihn, sich noch einmal Geld zu pumpen und ein Pärchen Shar-Pei-Hunde zu kaufen. Mit der Züchtung dieser chinesischen Hunderasse sollte all das verlorene Geld wieder eingespielt werden.
Schon nach fünf Monaten liefen fünf süße Welpen durch die Wohnung. Die Shar-Pei-Hündchen brauchten eine besondere Pflege. Ihre Augenlider mussten ständig abrasiert werden und sie durften nicht die Treppe herunter laufen, weil sie dann wegen ihres zu großen Kopfes und des zu kleinen Hinterns sofort umkippten. Katja betreute sie Tag und Nacht, verkaufte
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