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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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öffnete, lag der alte Herr blaß in den Kissen und rührte sich nicht. Sie hatte ihm den Puls gefühlt. Stabil. Aber der halbleere Streifen Rohypnol neben dem Wasserglas machte ihr Sorgen. Sie war zum Fenster gegangen, um Luft in das stickige Zimmer zu lassen. Wer gab dem Mann die Tabletten? Oder nahm er sie selbst? Vor drei Tagen wäre er dazu nicht in der Lage gewesen, aber danach war es ihm immer besser gegangen. Er hätte also können, aber hatte er auch wollen? Der alte Herr wirkte nicht wie ein Selbstmordkandidat. Andererseits … Was wußte sie schon über diesen Mann?
    Sie hätte den Laut fast nicht gehört, weil ein Pfau auf die Treppe unter dem Fenster gesprungen war, sein Schwanzgefieder ausgefahren, es selbstgefällig in alle Himmelsrichtungen gehalten hatte und in schrilles Trompeten ausgebrochen war.
    Sie drehte sich um. Zeus war auf das Bett gesprungen. Sie wollte ihn rufen. Aber dann hörte sie es vernehmlich glucksen. Und schließlich war der alte Herr in ein fast hysterisches Gelächter ausgebrochen, das Zeus mit freudigem Japsen beantwortete.
    Katalina war mit ein paar Schritten neben dem Bett.
    »Das ist Folter«, sagte der alte Herr lachend, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und kraulte mit der anderen Hand den Hund. »Wie soll ich stillhalten, wenn das Vieh mich ableckt?«
    Katalina hätte gelacht, wenn sie nicht so wütend gewesen wäre. »Schön, daß Sie leben und ansprechbar sind«, sagte sie. »Aber würden Sie die Güte haben, mir zu erklären, was hier abläuft?«
    Er hatte ihr keine Antwort gegeben. Aber langsam begann sie sich eine Antwort zusammenzureimen.
    Sie strich die Zeitung glatt und stand auf. »Und?« fragte die Werner, lauernd.
    »Ich weiß es nicht.« Katalina fühlte sich müde. Und das lag nicht daran, daß das Leben in Blanckenburg langweilig wäre, im Gegenteil: es war entschieden zu viel los.
    Frau Werner war sichtlich enttäuscht, daß sie schon gehen wollte. »Noch einen Kaffee? Und Liao –«
    »Ist rettungslos gesund, das wissen wir doch beide.«
    Katalina drückte der Werner hastig die Hand und verließ die Villa. Sie hatte noch zu telefonieren und die Besitzer zweier überernährter Goldhamster und eines senilen Kanarienvogels zu besuchen. Ganz zum Schluß radelte sie bei Tenharden vorbei, dem Züchter von Angusrindern, dessen Schwarzwälder Fohlen lahmte. Röntgen oder raten lautete in diesen Fällen die tierärztliche Devise. Ihrer Erfahrung nach war raten bei Pferden, den unbekannten Wesen, die bessere Methode.
    Endlich war Feierabend. Als ihr Mobiltelefon vibrierte, drückte sie auf die Austaste. Sie hatte es plötzlich eilig.

6
    Ein Krankenwagen mit der Aufschrift »Notarzt« fuhr ohne Martinshorn, aber mit kreisendem Blaulicht vor ihr her. Katalina schickte ein paar gute Wünsche voraus und beschwor die ärztliche Kunst und die Gunst des Schicksals. Der Anblick eines Krankenwagens machte sie – fromm? Oder abergläubisch? Egal. Es schadete nichts, und vielleicht half es sogar. Wie das Anzünden von Opferkerzen in Kirchen. Sicher ist sicher, hatte Großmutter immer gesagt.
    Der Wagen bog von der Hauptstraße ab; das war der Weg, den auch sie nehmen mußte. Sie dachte sich nichts dabei. Erst, als der Wagen die Gasse zum Schloß einschlug, wurde sie unruhig. Offenbar fuhr man keinen Patienten ins Krankenhaus. Man holte jemanden ab. Jemanden vom Schloß.
    Sie zwang sich, ihre Hände zu lockern, die sich um den Lenker gekrampft hatten. Bis jetzt hatte sie es eher für eine theoretische Möglichkeit gehalten, daß man dem greisen Mann im Turmflügel ans Leben wollte, zumal er auf dem Weg der Besserung war. Aber der Notarztwagen konnte nur eines bedeuten: der alte Herr simulierte nicht, es ging ihm so schlecht, daß sogar Alma und Noa das taten, was sie alle miteinander vielleicht schon früher hätten tun sollen, ja, worauf sie selbst hätte bestehen müssen – sie ließen einen Arzt kommen und ihn ins Krankenhaus bringen.
    Sie tastete in der Jackentasche nach ihrem Mobiltelefon. Vielleicht war es jemand vom Schloß gewesen, der vorhin versucht hatte, sie zu erreichen. Alma. Oder Noa. Jemand anderes kam nicht in Frage: Erin und Sophie, Alex und Peer waren längst wieder abgereist an ihre Arbeitsplätze in der Hauptstadt. Sie klickte sich durch das Menü. Tatsächlich – der letzte Anruf, den sie nicht mehr hatte entgegennehmen wollen, war vom Schloß gekommen.
    Katalina fluchte in sich hinein und überholte den Notarztwagen an einer

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