Russische Freunde
«Entschuldigung, machen Sie Kung Fu?»
«Kung Fu nicht, aber Karate», der Mann war so überrascht, dass er automatisch geantwortet hatte. Erst nach einer Pause fuhr er fort, ziemlich pikiert: «Wie kommen Sie auf die Frage?»
«Ach, entschuldigen Sie. Ich habe meine Tochter jahrelang ins Kung Fu begleitet, einer ihrer Trainer hiess Dragic, ich hatte das Gefühl, wir kennen uns von dort. Aber ich habe Sie offensichtlich verwechselt.»
Der Mann lächelte nur als Antwort, ich nickte ihm noch einmal zu und ging.
Ich nahm den Lift. Als ich unten ankam und sich die Tür des Aufzugs langsam zur Seite schob, wartete dort ein Mann. In seiner Grösse verdeckte er fast die ganze Tür, kahlköpfig, ein breiter Schädel, dicke Lippen, grosse Ohren. Grosse Hände, stellte ich fest, als ich mich an ihm vorbei aus dem Lift schob. Ohne zurückzuschauen, verliess ich das Gebäude. Ein Mann, den man so schnell nicht wieder vergass.
Es war Abend, wie üblich hatte ich nichts Essbares zu Hause, und die Geschäfte waren längst zu. Diagonal gegenüber meiner Wohnung liegt auf der anderen Strassenseite eine Tankstelle, dort erstand ich mir, mangels besserer Auswahl, Sardinen, Knäckebrot und Kekse. Als die Ware auf dem Küchentisch lag, fand ich sie dann doch zu deprimierend. Schliesslich hatte ich Geld. Also liess ich einen libanesischen Partyservice kommen und schöpfte aus dem Vollen, bestellte viel zu viel für eine einzelne Person. Ich sass mit einem Glas Wein vor zahlreichen Kartonschachteln, als mein Vater auftauchte. Wie immer kündigte er sich nicht mit Läuten an, sondern tappte einfach in meine Wohnung. Nachdem Vater mich abgeküsst hatte, musterte er etwas überrascht die vielen halbleeren Schachteln vor mir.
So viel Luxus war er von mir nicht gewohnt. Auch früher, bei uns zu Hause, hatten wir nie allzu viel Geld. Mein Vater war in den Fünfzigerjahren aus Ungarn in die Schweiz geflohen. Weil sein Diplom von der Schweiz nicht anerkannt wurde, holte er während langen Jahren das Medizinstudium nach, das meine Mutter finanzierte. Ausserdem brachte sie natürlich unsere Familie durch, also neben meinem Vater meine Schwester und mich. Für viel reichte es nie. Einige Jahre nach dem Medizinstudium eröffnete mein Vater eine Schönheitsklinik, an der er inzwischen sehr gut verdiente, aber da hatte er sich längst von meiner Mutter getrennt.
Jetzt streckte er mir, mit grosszügigem Lächeln, einen Fünfzigfrankenschein entgegen. Ich blickte ihn perplex an, ich hatte die SMS an ihn längst vergessen.
«Ach so, das reicht wohl nicht», meinte er kulant, und nicht ohne Seitenblick auf die Essensreste liess er den Schein in seinem Portemonnaie verschwinden und brachte eine Hunderternote zum Vorschein.
«Willst du ein Glas Wein, Papa?»
Er nervte, er nervte doppelt. Erstens einmal war ich kein Kind mehr, dem das Taschengeld ausgegangen war, und wenn ich ihn um Geld anging, dann wohl, weil ich mehr benötigte als fünfzig Franken. Und zweitens hatte sein Vorgehen System. Er wollte, dass ich ihn um mehr bitten musste, um sich noch einmal grosszügig geben zu können. Dabei hatte unsere Mutter ihn während Jahren ausgehalten, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren.
«Nimm doch ein Glas Wein, Papa», wiederholte ich und ignorierte seine Hand.
«Brauchst Du’s nicht?», fragte er und wedelte mit dem Geld vor meiner Nase herum.
«Ach so, nein, das hat sich erübrigt.»
Schliesslich setzte er sich zu mir an den Tisch. Ein richtiges Gespräch wollte aber nicht in Gang kommen, und nach einer knappen halben Stunde verabschiedete er sich und ging. Ich bedankte mich für sein Kommen. Immerhin, ich hatte ihn um Hilfe gebeten, und er war gekommen. Normalerweise meldet er sich nie.
11
Frisch geduscht, setzte ich mich mit der Waffe in der Hand an den Küchentisch und verpflegte mich mit den übriggebliebenen eingelegten Weinblättern vom Vorabend. Ans Frühstück hatte ich bei meiner Bestellung beim Libanesen nicht gedacht.
Die Gebrauchsanweisung der Waffe las sich nicht viel anders als die Bedienungsanleitungen, die ich von Haushaltsgeräten kannte, kompliziert, aber irgendwie harmlos. Seit gestern Abend kannte ich die Fachbezeichnungen all ihrer Bestandteile, die besonderen Hinweise und Warnungen konnte ich auswendig. Ob das reichte, bezweifelte ich, ich musste irgendwann eine Möglichkeit finden, um zu üben.
Ich stellte mich ans Fenster und resümierte die Fakten. Was ich wusste, war, dass Geld im Spiel war und eine russische
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