Russische Freunde
bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.
«Im Übrigen würde ich Ihnen wirklich raten, zur Polizei zu gehen. Nicht nur, weil die Polizei die Mittel hat, dem nachzugehen. Sondern, weil Sie sich, falls etwas an Ihrem Verdacht dran ist, in Gefahr begeben. Wenn Sie schon sagen, dass Sie am natürlichen Tod Ihres Freundes zweifeln.»
Ich brachte als Antwort nur ein Nicken zustande, nicht aus Angst, sondern weil ich mich heimlich schämte für meinen Dilettantismus.
Sie begleitete mich hinaus. Lisa Bächler war jung, hübsch und professionell. Ich hatte zuerst nur die Uniabgängerin in ihr gesehen, die die lästigen Anfragen übernehmen musste. Sie war mehr. Als wir uns verabschiedeten, entdeckte ich ein freches, aber warmes Lächeln in ihrem fein geschnittenen Gesicht.
12
Ich war spät dran, schmiss mich aufs Fahrrad und sauste los. Viel zu spät sah ich den Wagen, der aus der Tankstelleneinfahrt herausgeschossen kam. Ich riss das Lenkrad herum, rutschte dabei aus, und eines der Pedale schlug mit Wucht gegen meine Kniescheibe. Fluchend schleppte ich mich auf den Gehsteig. Das Auto war längst weg. Immerhin war ich auf der Hauptstrasse gewesen, während der Wagen aus einer Einfahrt kam. Ich hatte ihn nicht einmal richtig gesehen, gross, schwarz, blau, dunkel auf jeden Fall. Dunkel und gross, wie der blaue Volvo, den ich gestern bei der Tankstelle gesehen hatte.
Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es auf den Schosshaldenfriedhof. Petar stand auf den Stufen vor der Abdankungshalle. Ich ging auf ihn zu und wollte mich bei ihm bedanken, denn er hatte mich über die Beerdigung informiert, als sich andere auf ihn stürzten. Sieben oder acht Personen, die sich gut zu kennen schienen und die alle zwei Blumen in der Hand hielten. Russische Freunde von Juri, nahm ich an.
Aus dem Abdankungsraum war Musik zu hören. Die Gruppe diskutierte erregt, und es dauerte eine Weile, bis die Leute zur Ruhe kamen, während sie sich auf die vordersten Reihen verteilten. Ich selbst blieb hinten sitzen. Ausser den Russen und mir war fast niemand da. Ich hatte vergessen, Balthasar Zeiler zu informieren, dachte ich.
Steif lauschte ich der Chormusik, die von der Empore herunter erklang. Vor der ersten Sitzreihe stand ein aufwendiges Blumengebinde, das verstaubt wirkte und nach Standarddekoration aussah. Als das Stück zu Ende war, drehten sich Köpfe nach hinten und sahen sich suchend um. Ich wartete darauf, dass jemand das Wort ergreifen würde, aber nach einer kurzen Pause begann die Musik von neuem. Auf das zweite Stück folg-te ein drittes, dann ein viertes, es dauerte viel zu lange. Nach fünf oder sechs Stücken erhob sich ein Herr und verschwand nach hinten, ich sah seinen Kopf auf der Empore auftauchen. Ein lautes Klicken verriet, dass er ein Wiedergabegerät abstellte. Zögernd erhoben sich die Leute und begannen den Raum zu verlassen. Ich war entsetzt. Mindestens ein Gebet oder richtige Musik hätte Juri verdient.
«So etwas Unpersönliches habe ich noch nie erlebt», hörte ich hinter mir eine Dame schimpfen.
«Der junge Mann hatte keine Angehörigen in der Schweiz», flüsterte eine zweite Frau. Ich drehte mich um und fragte mich, ob die beiden alten Damen mit Juri befreundet gewesen waren.
Plötzlich entdeckte ich hinter mir Alexandre Pereira. Ich war erstaunt, den Bademeister hier anzutreffen. Er hatte doch Juri kaum gekannt, nach seinen eigenen Aussagen. Andererseits, ob unschuldig oder nicht, er war in Juris Tod verstrickt, auch das vielleicht ein Grund, an sein Begräbnis zu kommen. Wir nickten uns zu und folgten den anderen in einigem Abstand zum Grab. Von irgendwo her war eine Person in schwarzer Kleidung aufgetaucht, die nun am Grab stand und einen russischen Text las.
«Wissen Sie, ob das ein orthodoxer Priester ist?», flüsterte ich Pereira, der nun neben mir in der hintersten Reihe stand, zu. Er zuckte zur Antwort mit den Schultern. Wir sahen aus der Entfernung zu, wie sich ein Sarg in das Grab senkte. Die Vorstellung, dass sich Juri darin befand, machte mir zu schaffen. Ich wollte mich von Juri verabschieden, aber nicht so.
Da packte mich Pereira so plötzlich am Arm, dass ich zusammenzuckte.
«Da drüben steht der junge Kerl, der nachts im Bad bei mir war. Der nach Feierabend an die Scheibe geklopft hat. Von dem die Polizei nicht glaubt, dass es ihn gibt.»
Ich sah hinüber und glitt instinktiv hinter die Zypresse, ne-ben der ich mich befand. Ein paar Grabreihen weiter, in einiger Entfernung,
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