Russische Freunde
überhaupt nichts vorstellen. Aber natürlich dachte ich bei einer russischen Finanzfirma sofort an Geldwäsche und an mafiöse Geschäfte. Und Juris Rolle im Ganzen? Juri, der, seit ich ihn kannte, genauso knapp bei Kasse war wie ich? War er wegen Geld ermordet worden?
Ich streckte mich auf dem Filzspannteppich aus, mein Rücken ertrug die gebückte Haltung nicht mehr. Es war bereits später Nachmittag, und ich hatte während Stunden ohne Unterlass in den Computer gestarrt. Wer konnte mir erklären, um was es in den Finanzdateien von AdFin ging, die sich auf Juris Stick befanden? Was ich brauchte, war eine Vertrauensperson mit Russischkenntnissen. Ich kannte niemanden. Mein Mund schmeckte nach lauwarmem, bitterem Kaffee. Ich hatte nichts gegessen. Ich konnte noch stundenlang so liegen und nachdenken, ich kannte niemanden.
Im Internet zu recherchieren war einfach gewesen, aber jetzt? Sollte ich bei AdFin vorbeigehen und mich erkundigen, ob die Dateien etwas mit Juris Tod zu tun hatten? Sollte ich Lothar Perren anrufen und fragen, ob er Bescheid wusste über das Geld? Über mir baumelte meine neue Agentinnengarderobe, ich durfte vor dem ersten Tragen nicht vergessen, die Etiketten abzunehmen. Ich war nervös, müde und demoralisiert. Und ich begann, mich lächerlich zu fühlen. Was hatte ich nur dabei gedacht, so viel fremdes Geld auszugeben? Für die Büromiete, für die Kleider? Die Möglichkeit, mit meinen Infos zur Polizei zu gehen, hatte ich mir verbaut.
10
Lothar Perrens Büro befand sich in der unteren Altstadt. Ein Messingschild in den Lauben neben der Eingangstür wies auf die Advokatur-und Notariatskanzlei hin. Ich stiess die schwere Eichentür auf und betrat ein frisch renoviertes Treppenhaus. Während ich in den zweiten Stock hochstieg, rief ich mir die Entschlossenheit der Nacht im Schafstall bei Leuk in Erinnerung. Den schlimmsten Teil meiner Krise hatte ich schon gestern Abend überwunden. Im Laufe des Abends, mit vollem Bauch und bei einem Glas Wein, war mir bewusst geworden, dass ich sehr wohl eine wichtige neue Erkenntnis hatte. Juri, im Besitz von erstaunlich viel Geld, war mit AdFin, einer auf Finanzgeschäfte mit Russland spezialisierten Firma in Kontakt gestanden. Eines seiner letzten Telefonate war an AdFin gegangen. Ausserdem war ich mir sicher, dass Perren in Leukerbad nicht zufällig vor der Pension aufgetaucht war.
Ich betrat die Kanzlei und gelangte in einen Raum mit tiefblauen Polstersesseln auf gepflegt schimmerndem Parkettboden. Der Raum war leer, und es dauerte einen Moment, bis ich die junge Sekretärin im Nebenzimmer bemerkte, die mich anlächelte, während sie gleichzeitig leise ins Telefon sprach. Die Altstadtwohnung mit ihren kleinen, niedrigen Räumen war sehr geschickt umgebaut worden. Zwischen Empfangsbereich, wo ich mich befand, und Sekretariat war ein Teil der Wand herausgebrochen worden. Überhaupt war die Kanzlei weit geräumiger, als es von aussen den Anschein machte. Ich wartete im Eingangsbereich und fragte mich, wie die gesund glänzenden Topfpflanzen in diesem Raum überlebten. Das einzige Fenster, dessen milchige Scheibe für Diskretion sorgte, führte aufs Treppenhaus hinaus.
Als die Sekretärin das Telefonat beendet hatte, ging ich zu ihr.
«Ja, bitte?», sie war ihrer Umgebung entsprechend stilvoll gekleidet, und erst jetzt kam mir in den Sinn, dass es sich vielleicht gelohnt hätte, eines meiner neuen Kleidungsstücke anzuziehen.
«Ich möchte gerne einen Termin mit Herrn Perren vereinbaren.»
«Gerne. Dürfte ich Sie fragen, um was es geht? Herr Perren ist sehr beschäftigt, und vielleicht kann Ihnen ja auch einer seiner Partner behilflich sein?»
Laut Webseite war Perren bernischer Rechtsanwalt und Notar und arbeitete mit drei Juniorpartnern zusammen.
«Herr Perren ist mir empfohlen worden, in Zusammenhang mit Fragen zu einer Liegenschaft in Leukerbad. Weil er selbst ja von dort kommt, wäre es vielleicht günstig, mit ihm selbst zu sprechen.»
«Wie Sie wünschen. Es kann nur ein bisschen dauern bei ihm, aber ich schaue mal, ob ich in seinem Terminkalender eine Lücke finde. Um was geht es bei der Liegenschaft?»
Sie zog ein dickes Buch zu sich heran, vermutlich Perrens Agenda, wurde aber wiederum durch das Läuten ihres Telefons unterbrochen. Sie nahm ab.
Perren direkt auf Juri anzusprechen, war zu gewagt. Aber ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Ein Schafstall, leider nicht in der Bauzone, den ich gerne in ein Ferienhaus umbauen
Weitere Kostenlose Bücher