Russische Freunde
ihn auf der Webseite einer lokalen Laientheatergruppe, die einen Nachruf auf ihn ins Netz gestellt hatte. Auf einem Foto blickte mir ein unbekanntes Gesicht entgegen, ein unauffälliger junger Mann mit hellbraunen lockigen Haaren. Weil ich heute auf keinen Fall zu lange alleine im Bürogebäude bleiben wollte, liess ich es dabei bewenden. Als ich nach Hause radelte, fielen ein paar Schneeflocken.
15
Für die Fahrt nach Konolfingen besorgte ich mir einen Mietwagen. Ich liess ihn auf dem Bahnhofsparking stehen und ging zuerst zu Fuss ein bisschen herum. Es war ungemütlich kalt. Ich nahm den Geruch von Holzheizungen wahr, vermischt mit Schneeluft. Ein Miststock musste sich auch irgendwo in der Nähe befinden. Ich sehnte mich nach einer warmen Bauernstube mit Trittofen, düsterem Licht und einer grossen Tasse Milchkaffee. Schneegestöber kam auf. Die nassen Flocken blieben auf meiner Jacke liegen, die die Feuchtigkeit wie ein Schwamm aufsog. Ausser mir war praktisch niemand zu Fuss unterwegs, die Autos spritzen mich im Vorbeifahren an. Ich betrachtete die hell erleuchtete Fensterfront eines Coiffeursalons. Salon Colette, endlich wieder einmal ein Coiffeur, der sich nicht um Originalität bemühte mit einem Namen wie Haargenau oder Schnittbereich.
Eine Welle aus warmer Luft und süsslichen Gerüchen schlug mir entgegen, ein junges Mädchen begrüsste mich freundlich und nahm mir ohne mit der Wimper zu zucken den triefend nassen Mantel ab. Ich wurde gebeten, auf einem der Stühle gegenüber dem grossen Wandspiegel Platz zu nehmen. Ich vermied es, mein Spiegelbild anzusehen, die nassen Haare klebten an meinem Kopf und tropften auf meine Schultern. Während ich wartete, durchblätterte ich eine Zeitschrift. Ein Geräuschteppich aus leisen, diskret geführten Gesprächen lullte mich ein, in meinem Rücken bewegten sich die Coiffeusen gewandt durch den Raum. Die Wärme kroch in meinen Körper und machte mich schläfrig. So langsam vermischten sich die Gesprächsfetzen im Raum mit den Geschichten der Zeitschrift auf meinem Schoss. Ich war dabei, einzuschlafen.
Als ich schliesslich bedient wurde, hatte sich der Raum geleert. Ich war nun die einzige Kundin, und die meisten Coiffeusen waren in ihre Mittagspause verschwunden. Ein sehr junges Mädchen, vermutlich eine Lehrtochter, wusch mir die Haare. Der Besitzer des Salons, ein graumelierter, steif lächelnder Herr, kontrollierte die Vorräte an Shampoos auf den Gestellen und räumte auf. Vielleicht wollte er die Lehrtochter nicht mit mir alleine lassen. Nach ein paar Begrüssungsfloskeln kam ich mit dem Mädchen ins Gespräch. Noch etwas schüchtern und ungeübt, bemühte sie sich redlich, der Kundin die gewünschte Konversation zu bieten. Ich erwähnte den schrecklichen Selbstmord. Die junge Frau hatte davon gehört, wusste aber nichts Näheres, weil sie nicht im Dorf wohnte. Im Spiegel sah ich, wie der Besitzer des Salons in seinen Bewegungen innehielt und zu uns herüberblickte. Ich drehte mich zu ihm hin.
«Ich war zwei Wochen in den Ferien, bin gestern zurückgekommen. Und heute Morgen hat mir jemand gesagt, der Sohn von Buchers habe sich umgebracht! Wie ist denn das passiert?»
Wir sahen uns über den Spiegel hinweg in die Augen. Seine Reaktion zeigte keinerlei Befremden über meine direkte Frage, die Neugier von Kundinnen zu befriedigen war Teil seines Jobs. Er kam zu mir herüber.
«Wissen Sie, wir hier kennen Buchers nicht persönlich, sie ist keine Kundin, und die Familie wohnt ja auch noch nicht lange in Konolfingen», er hatte sich neben den Frisierstuhl gestellt und sprach zu meinem Spiegelbild.
«Was man so hört, ist, dass Tobias Bucher eine Nacht lang nicht heimgekommen sei. Die Eltern haben es bemerkt, haben sich aber keine Sorgen gemacht. Tobias Bucher war erwachsen. Dreiundzwanzig ist er geworden.»
Er unterbrach sich. «Sie kennen die Familie Bucher?»
«Eher flüchtig», ich schüttelte den Kopf und die Lehrtochter verfing sich mit dem Kamm an meinem Ohr.
«Tobias hat ja Jus studiert und war gerade in einem Praktikum im Erbschaftsamt in Bern. Als er in der Nacht nicht heimkam, haben die Eltern angenommen, er übernachte bei einem Kollegen. Am nächsten Tag fanden sie den Abschiedsbrief. Er lag wie ein normaler Brief zusammen mit Zeitungen und Reklame im Briefkasten. Unfrankiert. Die Mutter hat ihn gefunden. Sie hat es zuerst für einen Witz gehalten, einen schlechten. Das Ganze kam offenbar völlig unerwartet. Aber natürlich haben sie begonnen,
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