Russische Freunde
Tobias zu suchen. Auf der Arbeit war er nicht, und keiner der Freunde wusste, wo er steckte. Sein Fahrrad war auch weg.
Jetzt scheint es so gewesen zu sein, dass Tobias Bucher an seinem Todestag gegen Abend nach Hause gekommen ist, sich umgezogen hat und mit dem Velo noch einmal weggefahren ist. Er machte das ab und zu, als Training. Nur kam er offensichtlich nie zurück. Die Eltern wollten gerade eine Vermisstenmeldung machen, ja, und da haben sie ihn gefunden.»
«Die Eltern haben ihn gefunden? Buchers?»
«Nein, Spaziergänger, die den Fund der Polizei meldeten. Die Polizei wollte gerade zu Buchers gehen, um sie zu informieren. Da tauchte Herr Bucher von selber auf dem Posten auf wegen der Vermisstenmeldung. So haben sie davon erfahren.»
«Er lag in der Kander, nicht wahr?» Soviel wusste ich aus der Boulevardzeitung.
«Ja, in der Kander. Er ist offensichtlich von der Brücke gesprungen, sein Fahrrad und auch der Helm lagen in der Nähe, im Wald. Und er trug Velomontur. Der Fluss hat ihn ein Stück weit mitgezogen, bis er zwischen ein paar Felsbrocken eingeklemmt wurde. Da war er aber sicher schon tot, sagen sie, den Sprung überlebt keiner. Sein Kopf war völlig zerschmettert. Ja, Spaziergänger haben ihn dort zwischen den Felsen gefunden, aber erst spät am nächsten Tag.»
«Das ist eine seltsame Art, sich umzubringen.» Die junge Coiffeuse kämmte meine frisch gewaschenen, inzwischen trocken geschrubbten Haare. «Wer radelt denn zuerst von Konolfingen nach Wimmis, bevor er sich tötet? Kommt nach Hause, zieht sich sportlich an, steigt in die Velohosen, schnallt sich den Helm an. Und bringt sich dann um?»
«Es gibt nichts, was es nicht gibt. Das weisst du nie, warum und wie die Leute so etwas tun», belehrte der Salonbesitzer seine Lehrtochter. Ich nickte dem älteren Herrn im Spiegel beipflichtend zu, und er lächelte zurück. Reiner Opportunismus meinerseits, ich wollte, dass er weitersprach. Eigentlich fand ich, dass die Lehrtochter recht hatte. Es war sehr seltsam.
«Und die Behauptung des Ehepaars, dass sie Schreie gehört hätten?», nahm ich das Gespräch wieder auf.
«Wenn Sie mich fragen, nichts als eine Erfindung der Klatschpresse.»
«Was stand denn im Brief?», erkundigte ich mich.
«Das Übliche, dass es ihm leid tue und dass seine Eltern nichts dafür könnten. Viel nützen wird es ihnen nicht.»
«Ein bisschen vielleicht schon, später einmal, hoffentlich», erwiderte ich. Ich hoffte es wirklich. Die mir unbekannten Buchers taten mir leid.
Der Coiffeurbesuch hatte sich gelohnt. Ich hatte mich aufgewärmt, und der Zugang zum Dorfklatsch war im Preis für Schneiden, Legen und Föhnen inbegriffen gewesen. Nach unserem Gespräch wies der Herr das Mädchen an, eine der ausgebildeten Coiffeusen zu holen, die mir die Haare schnitt. Wir waren zu zweit im Raum, inzwischen hatten sich auch der Salonbesitzer und die Lehrtochter nach hinten verzogen. Ich schwieg und vertiefte mich in das Krebsleiden einer mir unbekannten Monarchengattin. Ich war zu müde, um mich noch weiter mit den beiden Toten zu beschäftigen.
16
Ich parkierte den Wagen auf dem Parkplatz einer Spenglerei. Ich hoffte, dass der neue Haarschnitt, einmal gewaschen und etwas zerzaust, weniger bieder aussehen würde. Im Moment kamen mir die ordentlich geföhnten Locken gelegen.
Die Familie Bucher wohnte in einem vor kurzem fertiggestellten Neubau. In einer ruhigen Seitenstrasse, quer zum flachen Hang, befanden sich sechs identische Einfamilienhäuser. Ein frisch aufgeschütteter Sitzplatz lag vor dem Haus, unter der feinen, nassen Schneeschicht zeigte sich die nackte Erde. Die Zufahrt aus wabenförmigen Betonplatten wurde geschmückt von ein paar dunkelblauen Glaskugeln und einer Katze aus Ton. Als ich klingelte, stand ich unter einem kleinen Giebeldach, zwischen klassischen Säulen. An der Haustür vor mir baumelte ein aus Holzzweigen geflochtenes Herz.
Die junge Frau, die die Tür öffnete, war vermutlich Tobias’ jüngere Schwester. Ich stellte mich mit meinem richtigen Namen vor und fragte nach ihren Eltern. Sie sagte, sie sei allein zu Hause. Ich kondolierte und fuhr dann fort:
«Ich arbeite für die Universität Bern, als Studentenberaterin. Tobias hat ja an der juristischen Fakultät studiert. Sein Selbstmord stellt uns vor die Frage, ob es vonseiten der Universität irgendeine Mitverantwortung gibt. Von Schuld möchte ich nicht sprechen. Aber, ob das Studium irgendwie zu seinem Entschluss beigetragen hat. Das ist
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