Russische Freunde
für uns wichtig. Weil, wenn das der Fall wäre, müssten wir – ja, dann müssten wir schauen, was es braucht, um so etwas in Zukunft zu verhindern», log ich. «Ich möchte Ihnen deshalb gerne ein paar Fragen stellen, falls Sie dazu bereit sind, natürlich. Sie sind Tobias’ Schwester?»
«Bettina Bucher, eine Schwester von Tobias. Sie sind nicht von der Presse, oder?»
«Nein, natürlich nicht. Alle Auskünfte werden vertraulich behandelt, das Dossier anonymisiert. Es geht wirklich nur darum zu klären, ob das Studium in einem Mass zu einer Belastung werden kann, dass sich jemand zu einem solchen Schritt gezwungen sieht.»
«Meine Mutter könnte Ihnen sicher besser Auskunft geben.»
Sie zögerte immer noch, mich ins Haus zu lassen, überwand sich aber schliesslich. Hinter ihr betrat ich eine in rötlichen Brauntönen gehaltene Diele, die in ein grosses Wohnzimmer führte. Neben einem freistehenden Kamin befand sich eine Polstergruppe. Bettina Bucher bot mir an, Platz zu nehmen, ich setzte mich auf die Sofakante und lehnte ihr Angebot, etwas zu trinken, ab. Trotzdem brachte sie aus der Küche eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser.
Durch eine breite Fensterfront sah ich auf den frisch aufgeschütteten Sitzplatz hinaus. Einzelne Grashalme drängten durch die noch weiche, dunkelbraune Erde und trafen dort auf den ersten Schnee.
«Wir würden einfach gerne wissen, was der Grund war für seinen Freitod. Letztlich, ob sein Tod etwas mit der Universität zu tun hatte», erklärte ich noch einmal.
Bettina Bucher sass sehr aufrecht in ihrem Polstersessel, sie kaute an ihren Lippen und ihre Augen wanderten durch den Raum, ohne mich anzusehen.
Schliesslich presste sie heraus: «Wir wissen es nicht.»
Sie starrte auf den Boden.
«Haben Sie irgendeine Veränderung festgestellt in den letzten Monaten? War er angespannt? Ist etwas vorgefallen? Hat ihn das Studium belastet?»
Ich bemühte mich um einen ruhigen, warmen Ton. Bettina drehte sich ab und ich folgte ihrem Blick. Auf einer Kommode standen Kerzen rund um eine Fotografie von Tobias Bucher, Trauerkarten lagen daneben. Bettina stand auf, zündete eine Kerze an und blieb an die Kommode gelehnt stehen. Ein junges, schmales Mädchen in Jeans und in einem Kapuzenshirt. Ihre Hände umklammerten den Griff einer Schublade, hinter ihrem Rücken.
«Etwas war anders. Meine Eltern haben nichts bemerkt. Aber ich kannte Tobias besser als sie, ich stand ihm sehr nahe. Meine Eltern denken, dass irgendwelche Drogen schuld sind. Aber das ist Quatsch, Drogen haben Tobias nie interessiert. Und dann, die Aussage des Ehepaars hat uns natürlich auch verunsichert. Ich weiss nicht, ob sie davon gehört haben, aber eine Boulevardzeitung wollte unbedingt ein Verbrechen daraus machen. Irgendwelche Leute haben Schreie gehört, einen Streit, die Zeitung behauptete, dass die Schreie etwas mit Tobias’ Tod zu tun hatten und dass er nicht allein war. Für meine Eltern ist der Selbstmord schwer zu akzeptieren, sie fragen sich, ob sie schuld sind. Ich selber verstehe es ja auch überhaupt nicht.»
«Sie sagten, Sie hätten eine Veränderung bemerkt?»
«Er war in der letzten Zeit ziemlich gestresst und auch sehr verschlossen. Aber er war irgendwie, ich weiss nicht wie ich das sagen soll, er war – positiv gestresst. So wie wenn er etwas Grossartiges in Aussicht hätte. Ich habe gedacht, er bildet sich schon was drauf ein, dass er bald Anwalt ist.»
«Seit wann haben sie die Veränderung bemerkt?»
«Eigentlich schon länger, seit drei oder vier Monaten vielleicht. Ich wollte ihn immer darauf ansprechen. Nur, vor ein paar Wochen, da hatten wir Streit. Er hat total empfindlich reagiert, als ich seinen Computer benützt habe. Er hat es noch nie gemocht, wenn ich an seinen Computer ging, hat immer behauptet, dass ich ihm Dinge verschiebe und Viren einschleppe. Aber diesmal war er richtig grob. Er hat mir ins Gesicht gesagt, dass mich seine Angelegenheiten nichts angingen. Ich solle seine Sachen in Ruhe lassen. Ich war beleidigt. Deshalb habe ich ihn dann nicht gefragt, was los war. Sonst wüsste ich jetzt vielleicht, weshalb er es getan hat. Und vielleicht hätte ich etwas dagegen tun können.»
Ich erwartete, dass sie in Tränen ausbrach, aber sie strich sich mit einer fast wütenden Bewegung die Haare aus dem Gesicht.
«Es war seine Entscheidung», sagte ich leise. Im Hintergrund ertönte das Geräusch einer Katzenklappe, Bettina drehte den Kopf zur Seite und sah einer Tigerkatze
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