Russische Freunde
Weile, bis ich in die Gaststube zurückkam. Ich wollte zahlen, da bemerkte ich, dass meine Schultertasche fehlte. Sie hatte doch über der Stuhllehne gehangen, als ich zur Toilette ging.
Ich sah mich in der Gaststube um. Sie hatte sich seit meiner Rückkehr weiter geleert, am grossen runden Tisch in der Nähe der Theke sassen nur noch wenige Stammgäste. Keiner sah verdächtig aus, ausserdem konnte sich keiner von ihnen die Tasche holen, ohne dass die Kollegen das bemerkt hätten.
Ich stellte mich an die Theke und winkte die Serviceangestellte heran, eine gesund wirkende, robuste Frau mittleren Alters. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, was ich sie fragen wollte, dann war sie bestürzt. So etwas war hier noch nie geschehen. Sie hatte nichts bemerkt, war mit Geschirreinräumen beschäftigt gewesen. Ich fragte sie nach Gästen, die in den letzten Minuten gegangen waren. Eine Dame hatte neben dem Eingang einen Tee getrunken, den sie sofort bezahlt hatte. Die Serviceangestellte hatte nicht einmal bemerkt, dass sie nun weg war.
«Hei, hat einer von euch etwas gesehen», rief sie von ihrem Platz hinter der Theke zu den Männern am Stammtisch hinüber, «der Dame hier ist die Handtasche gestohlen worden, als sie auf der Toilette war.»
«Wir waren es nicht», wehrte sich einer sofort. Blöde Sprüche folgten. Halb im Spass, halb im Ernst versicherten sie sich gegenseitig, dass sie sich nicht von ihren Plätzen wegbewegt hatten.
«Aber bemerkt habt ihr nichts? Da war doch so eine Frau, die da drüben gesessen ist?» Keiner hatte etwas gesehen.
«Was haben Sie denn in der Handtasche gehabt?», rief mir, etwas grob im Ton, einer der jüngeren Männer entgegen. Es war nicht unfreundlich gemeint, er wollte helfen. Ich war noch gar nicht dazu gekommen, mir das zu überlegen, und tastete meine Jackentaschen ab. Das Portemonnaie mit Kreditkarte und Ausweis und auch die Autoschlüssel hatte ich noch. Was fehlte, waren die Schlüssel zu meiner Wohnung und zu meinem Büro, ein Mobiltelefon, mein Adressbuch. Lippenstift, meine Sonnenbrille. Die Pistole.
«Vor allem meine Hausschlüssel sind weg. Und das Adressbuch», antwortete ich dem Mann. Bedauernde Kommentare folgten, aber auch, dass ich Glück gehabt hatte mit dem Portemonnaie. Einer machte einen Spruch darüber, dass dann aber auch Portemonnaie nicht gleich Portemonnaie sei.
«Weisst ja nicht, was sie drinnen hat. Es gibt da dickere und dünnere. Deines, Kari, würdest du wohl gar nicht vermissen. Nimmst es ja nie heraus», zündete er einen hageren Mann an, mit dünnem Bart und halblangen Haaren.
«Was weisst du denn, wie viel ich im Portemonnaie habe», wehrte der sich halbherzig.
«Ja, dann kannst ja du die nächste Runde bezahlen», ging es weiter. Ich bedankte mich bei der Wirtin, zahlte meinen Kaffee und verliess das Lokal.
Den Autoschlüssel hatte ich noch. Ich stieg ein und schloss für einen Moment die Augen. Diese Frau, von der die Kellnerin gesprochen hatte, eigentlich kam nur sie in Frage, wie frech von ihr. In einem Landgasthof werden am helllichten Tag keine Handtaschen gestohlen.
Ich fuhr los. Aufgebracht und wütend, wie ich war, fuhr ich zu schnell. Nach ein paar Kilometern merkte ich es und drosselte mein Tempo. Wenn ich konzentriert bin, fahre ich eigentlich gerne schnell. Aber wenn ich merke, dass ich unachtsam bin, versuche ich, mein Tempo zu drosseln. Weil mir dann die Katze in den Sinn kommt, die ich vor ein paar Jahren überfahren habe. Ich hatte ihr Bild, das Blut, das aus ihrem Mund lief, wieder einmal vor Augen, als ich auf eine langgezogene Brücke mit Geländern zufuhr. Ich war schon auf der Brücke, als ich das weisse Auto sah. Es kam mir auf meiner Fahrspur entgegen, es war noch weit weg, aber es raste auf mich zu. In einer ersten Reaktion dachte ich daran, auf die linke Strassenseite zu wechseln, aber das Auto schien mir dorthin folgen zu wollen. Es zielte auf mich. Instinktiv wollte ich nach rechts ausweichen, runter von der Brücke. Nein, das nicht, nicht in die Tiefe, ich legte eine Totalbremsung hin und krallte das Lenkrad fest. Ich stand, mit abgewürgtem Motor. Das weisse Auto sauste mit wenigen Zentimetern Abstand an mir vorbei.
Das war Absicht gewesen, daran gab es keinen Zweifel. Nach dem Schock kam die Angst. Eine Frau hatte am Steuer gesessen, mit einem Mann neben sich. Das weisse Auto, das im Stockental hinter mir hergefahren war, ebenfalls eine Frau am Lenkrad und ein Mann auf dem Beifahrersitz. Ein weisses Auto
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