Russische Freunde
Pfützen. Wir gingen auf einem asphaltierten Strässchen über offene Felder, geradeaus auf einen kleinen Forst zu, wo ich den Fluss und die Brücke vermutete. Bettina gab die Richtung vor, ich folgte. Die Luft roch nach Holzfeuer, irgendwo waren Waldarbeiter damit beschäftigt, Bäume zu fällen, eine Motorsäge kreischte in der Stille. Als wir den Wald erreichten, sah ich, dass der Weg in einer grossen Schleife hinunter zur Brücke führte. Bettina blieb zögernd stehen, ich wartete auf sie. Von ferne hörte ich die Geräusche der Schnellstrasse auf der anderen Talseite. Kunstvoll geschmiedete Strassenlaternen, die besser in einen Kurpark als in den Wald gepasst hätten, säumten den Weg. Sie sollten wohl Sicherheit vermitteln, aber ich fand sie unheimlich. Weshalb Lampen mitten in einem Wald, in dem nachts niemand spazierte. Als ob hier früher einmal eine Untat geschehen wäre. Die geeignete Kulisse für einen Mord. Ich wartete. Bettina kam nicht.
Bettina wollte offensichtlich nicht weiter, nicht hinunter zur Brücke. Sie hatte sich umgedreht und ging langsam den Feldweg entlang zurück. Ich kehrte ebenfalls um. Weiter oben bog Bettina in eine schmale Strasse, die parallel zur Kander flussabwärts verlief. Ich holte auf und lief neben ihr her. Wir hatten schon im Auto wenig gesprochen. Vermutlich dachte sie jetzt daran, dass hier irgendwo ihr Bruder umgebracht worden war. Ihre Schritte hallten auf dem Asphalt, und sie zog alle paar Sekunden ihre Nase hoch. Auch ich musste mich schnäuzen, es war kalt.
Nach ein paar hundert Metern landeten wir vor einem weitläufigen Werksgelände, das mit einem hohen Gitterzaun und Stacheldraht umgeben war. Öffentlich zugänglich war nur der grosse Parkplatz, eine Barriere verwehrte den Zutritt auf das Grundstück. Ich fragte mich, was hier produziert wurde und weshalb sich die Fabrik so gut gegen Eindringlinge wappnete.
Bettina bog ein zweites Mal nach links ab, noch weiter weg von der Brücke, die ich doch eigentlich mit ihr besuchen wollte. Ich wagte es nicht, sie darauf anzusprechen. Über uns zogen laut lärmend zwei Militärflugzeuge in Richtung schneebedeckte Berge. Eine Schrebergartensiedlung lag links am Weg, wir gingen daran vorbei, und ich besah mir die Häuschen. Bettina wies mit der Hand auf einen zurechtgestutzten Kegel aus Buchsbaum, in der Mitte einer Rasenfläche in Taschentuchformat.
«Da will sich einer mit Versailles messen.»
Sie lachte dünn über ihren eigenen Witz. Ich sagte nichts.
Wir gingen längere Zeit in die gleiche Richtung weiter, die schmale Strasse wurde schliesslich zu einem Feldweg, der hier parallel zur Autobahn verlief. Neben uns brausten in hohem Tempo Autos vorbei und machten mich nervös. Ich wusste nicht, was Bettina hier wollte. Nach ein paar hundert Metern bog der Weg abrupt ab und führte unter die Autobahn. Aus der Helligkeit kommend, musste ich mich an die Dämmerung gewöhnen. Wir befanden uns auf einem Fussgängersteg unter einer Autobahnbrücke, über unseren Köpfen rumpelten die Fahrzeuge. Ein schmaler, bis oben hin vergitterter Steg führte zwischen zwei Brückenpfeilern über einen kleinen Fluss, der kaum Wasser führte. Ich wusste weder, wie der Fluss hiess, noch, wo ich mich befand. Ich schrak auf, als plötzlich ein Zug vorbeirauschte, die nebenan gelegene Eisenbahnbrücke hatte ich gar nicht bemerkt. Diesmal ergriff ich die Initiative, ich ging langsam zurück auf den Feldweg, über den wir gekommen waren.
«Was war denn das für ein Fluss?», fragte ich Bettina, als sie wieder neben mir ging, und wir uns den ersten Einfamilienhäusern von Wimmis näherten.
Sie sah mich überrascht an: «Die Kander.»
«Aber die ist doch dort drüben?», ich zeigte mit der Hand in Richtung Forst und Brücke, zu der Bettina nicht hingewollt hatte.
«Nein, das ist die Simme.»
«Aber Tobias ist doch von der Kanderbrücke …?»
Gestürzt, gestossen worden, ich wagte weder das eine noch das andere auszusprechen, und beides machte keinen Sinn. Die Distanz vom unter der Autobahn gelegenen Steg zum seichten Fluss, der nun offenbar die Kander gewesen war, reichte nicht aus für einen tödlichen Sturz. Ausserdem war der Steg bis oben hin vergittert.
«Nicht hier. Weiter unten. Nach dem Zusammenfluss von Kander und Simme.»
Bettina zeichnete mit einem Stöckchen in den sandigen Boden.
«Hier ist die Simme, hier die Kander. Über die Simme führt eine Holzbrücke, dort oben im Wäldchen, wo wir zuerst waren. Hier kommst du über den
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