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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie auf. Eine Gestalt in einem grünen Overall, auf dem in großen roten Buchstaben »Erste Hilfe« stand, erschien.
    »Was ist denn passiert, Jelena Petrowna?« Sanja schlucktekrampfhaft, mehr als alles andere fürchtete er, sich noch einmal übergeben zu müssen. Die Milizionäre schleiften ihn auf die Straße. Dort blieben sie unter einer hellen Laterne einige Minuten lang stehen. Zwei Sanitäter trugen eine Bahre aus dem Haus.
    »Kennst du diesen Mann?« fragte ihn einer der Milizionäre und zeigte auf den Toten.
    »Nein«, flüsterte Sanja und wandte sich ab. Er brachte es nicht fertig, in das tote Gesicht zu schauen, auf das große, scharf umrissene Loch mit dem schwarzen Pulverrand in der Schläfe.
    »Sieh hin!« herrschte ihn der Milizionär an. »Das ist dein Werk. Du kennst ihn. Na?!«
    »Das ist Artjom Butejko«, preßte Sanja sehr langsam, Silbe für Silbe, heraus.
    »Ausgezeichnet.« Der Milizionär nickte billigend. »Kommt dir dieser Gegenstand bekannt vor?«
    In einer Zellophantüte lag eine Pistole. Sanja kannte sie nur allzu gut. Es war seine eigene nagelneue sechsschüssige Walter, die er in diesem Sommer aus einer Laune heraus von irgendeinem windigen Typen erworben hatte, ein Gelegenheitskauf. Einen Waffenschein besaß er natürlich nicht, aber trotzdem hatte Sanja es sich nicht nehmen lassen, eine Gravierung auf dem Griff zu bestellen – seine Initialen: »A. A.«

Kapitel 2
    Die Rue Sainte-Cathérine verläuft quer durch das riesige Montreal, durchschneidet es von einem Ende zum anderen, zieht sich durch das Zentrum, durch die reichen und die armen Viertel. Jelisaweta Beljajewa, die ihren miserablen Orientierungssinn kannte, beschloß, einfach dieser Straßezu folgen und nicht abzubiegen. So war die Gefahr, sich zu verlaufen, geringer.
    Viel Zeit hatte sie nicht. Um halb neun mußte sie schon wieder zurück im Hotel sein und sich für das Bankett umziehen. Die folgenden fünf Konferenztage waren randvoll mit Sitzungen, Treffen und Diskussionen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Nur heute war die zweite Hälfte des Tages laut offiziellem Programm für »Exkursionen und Erholung« reserviert.
    Jelisaweta Beljajewa – Lisa, wie ihre Freunde sie nannten – schritt möglichst zügig durch das große Hotelfoyer, um nicht in irgendwelche Gespräche mit Bekannten verwickelt zu werden und dadurch kostbare Zeit zu verlieren. Sie hatte so lange auf diese wenigen Stunden der Freiheit und des Alleinseins gewartet, daß sie schon ein wenig aufgeregt war, fast wie vor einem Rendezvous.
    Sie lief über den Parkplatz und blieb vor einem weißen Lincoln stehen, um in der Scheibe ihr Aussehen zu kontrollieren und ihr Haar zu ordnen. Für einen Moment spiegelte sich neben ihr ein bekanntes Gesicht. Anatoli Krassawtschenko, Vertreter des russischen Außenministeriums, rauchte an der frischen Luft eine Zigarette, ohne von ihr Notiz zu nehmen.
    Seit ihrer Jugend hatte sich bei ihr die dumme Angewohnheit herausgebildet, sehr rasch zu gehen, selbst wenn es dafür gar keinen Anlaß gab. Auch jetzt verfiel sie unwillkürlich in diesen geschäftigen Laufschritt, statt einfach entspannt zu schlendern.
    Nicht weit vom Hotel entfernt erhob sich die postkartenschöne Kathedrale, erbaut zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Stil der Neogotik. Die Kirchtürme konnte man aus dem Fenster von Lisas Hotelzimmer sehen, und heute morgen noch hatte sie beim Hochziehen der Jalousie gedacht,daß sie sich die berühmte Kathedrale unbedingt anschauen müsse.
    Aus dem Innern der Kirche tönte die weiche, schwere Musik einer Orgelfuge von Bach. Lisa schob die kupferne Tür auf und bemerkte dabei, daß der edle Grünton künstlich auf dem Kupfer aufgetragen war.
    Die Kathedrale war leer. Die Klänge der Fuge strömten aus einem Lautsprecher. Ein buckliger, kleiner alter Mann in einem dunkelkarierten Hemd bearbeitete mit einem Staubsauger geräuschlos den kirschroten Läufer zwischen den Bankreihen. Lisa blieb einige Minuten stehen und betrachtete die Fresken und das Deckenmosaik, das so raffiniert von unten beleuchtet wurde, daß es in allen Regenbogenfarben schillerte. Der Rüssel des Staubsaugers kroch ihr vor die Füße. Die trüben runden Augen des Buckligen streiften verärgert ihr Gesicht. Leise ging Lisa hinaus.
    In diesen wenigen Minuten hatte sich der Himmel bezogen, Wind war aufgekommen, und es fing an zu schneien, ein feiner, trockener Schnee. Sie wickelte ihren Schal fester um den Hals und schlenderte langsam

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