Russische Orchidee
Krassawtschenko. »Wie hat es Sie nur dahin verschlagen, Jelisaweta Pawlowna?«
Und Sie? zuckte es Lisa durch den Kopf, aber sie sprach ihre Frage nicht laut aus.
Die kleine Patisserie war menschenleer. Rosa gestrichene Wände, niedrige Glastischchen, geblümte Polsterstühle und Sofas.
»Gleich ist der Schock vorüber, und Sie werden darüber nachdenken, wie man all diese heruntergekommenen Gestalten retten könnte. Eben waren es für Sie noch Monster,doch gleich werden Sie die unschuldigen Opfer sozialer Ungleichheit in ihnen sehen.« Krassawtschenko lächelte und berührte ihre Hand. »Hier gibt es wunderbaren Kuchen. Mögen Sie Süßes?«
»Ich werde mir bestimmt keine Gedanken darüber machen, wie man die da rausholen kann. Und Süßes mag ich auch nicht«, knurrte Lisa ungnädig.
»Aber einen Obstsalat und eine Tasse Cappuccino werden Sie doch hoffentlich nicht ablehnen?«
Krassawtschenko half ihr aus dem Mantel, wobei er ungeniert mit den Fingern über ihren Hals streifte, so als wolle er ihr das Haar im Nacken ordnen.
Das ist ja ganz was Neues, dachte Lisa erstaunt, woher auf einmal diese Vertraulichkeit? Hat das einen Grund?
Seine Finger waren eiskalt. Seine Augen ebenfalls. Überhaupt merkte sie, nachdem der Schock tatsächlich vorüber war, daß er keineswegs so nett und sympathisch war, wie es ihr vorgekommen war. Wieso war er eigentlich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen? Hatte er vielleicht gerade ein schnelles Abenteuer mit einer billigen Prostituierten gesucht? Oder hatte er mal Marihuana ausprobieren wollen? Denn verirrt konnte er sich schließlich nicht haben, er hatte ja selber gesagt, daß er die Stadt sehr gut kenne. Oder war er ihr gefolgt? Blödsinn …
Lisa setzte sich auf eins der bequemen kleinen Sofas und hielt sich gerade noch zurück, die Schuhe abzustreifen und die Beine hochzuziehen. Krassawtschenko nahm ihr gegenüber auf einem Polsterstuhl Platz.
»Ich habe Sie im Einkaufszentrum bemerkt, in der Spielwarenabteilung. Ich wollte Sie schon ansprechen, aber ich habe einen Grundsatz: Störe nie eine Frau, die gerade einkauft. Und dann sind Sie so rasch gegangen, fast schon gelaufen.«
Ich bin langsam gegangen. Ich bin sogar stehengeblieben,um den Stadtplan zu studieren. Ich habe Passanten angesprochen, stellte Lisa in Gedanken fest.
»Ich wollte Sie nämlich immer schon näher kennenlernen. Es hat sich nur noch nie ergeben.«
Der Obstsalat war mit einer neckischen Rose aus Schlagsahne verziert. Der Kaffee hatte ein leichtes Vanillearoma. Krassawtschenko stocherte mit dem Löffel in seinem Kuchenstück herum, einer aus mehreren Schichten bestehenden Kreation aus Gelee und Soufflé, ohne etwas zu essen. Dafür trank er sein Mineralwasser in einem Zug aus und zündete sich sofort eine Zigarette an. Lisa dachte, daß er offenbar auch nichts Süßes mochte, und machte sich mit Appetit an ihren Salat.
Sie aß langsam, nippte ab und zu an ihrem Kaffee. Er schaute sie unverwandt an, ohne zu blinzeln. Ja, ihr war auch schon aufgefallen, daß er sie kennenlernen wollte, sie begriff nur nicht, warum. Das Theater, das er ihr vormachte, fand sie unangenehm. Sie war alt genug, um sich von so etwas nicht mehr täuschen zu lassen. Wie ein Mann aussieht, der tatsächlich verliebt ist, wußte sie sehr gut.
»Leute kennenzulernen ist doch das A und O Ihres Berufsstandes«, sagte sie lächelnd, aß den letzten Happen Salat und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. »Dafür sind Sie schließlich Diplomat, um selbst zu solchen Leuten Kontakt zu finden, die gar keinen Kontakt zu Ihnen wollen.«
»Und die das auch gar nicht verbergen«, fügte Krassawtschenko hinzu und lächelte vielsagend. Gleich darauf trat ein verliebter Ausdruck auf sein Gesicht. Sein Blick glitt von ihren Lippen tiefer zu ihrem Hals, er schluckte und wollte schon seine Hand ausstrecken, um ihr eine widerspenstige Haarsträhne zu glätten – »Diese Frisur steht Ihnen sehr gut, Lisa« –, zog die Hand dann aber abrupt wieder zurück und errötete.
Von dem kann man in puncto Selbstdarstellung wirklich noch was lernen, dachte Lisa, während sie die ausdrucksvolle Mimik des Diplomaten beobachtete. Wäre ich fünfzehn Jahre jünger, würde ich glatt darauf hereinfallen.
»Anatoli Grigorjewitsch, ist was mit Ihrem Kuchen? Sie essen ja gar nichts.«
»Ich schaue immerzu nur Sie an, Lisa. Ich versuche zu ergründen, worin Ihr Geheimnis besteht. Und ich glaube fast, ich weiß es. Es besteht nicht darin, daß
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