Russische Orchidee
weiter. In dem leichten Schneegestöber wirkte die Stadt zart und geheimnisvoll.
Lisa schaute auf die Uhr, stellte fest, daß ihr für ihren Ausflug nur noch zweieinhalb Stunden blieben, und stieg in das riesige Einkaufszentrum von Montreal hinunter. Sie wollte sich ein paar Blusen kaufen, die zu ihrem Businesskostüm paßten.
»Kann ich Ihnen helfen sein, Ma’am?« Eine junge Verkäuferin, die gelangweilt neben den Umkleidekabinen gestanden hatte, wurde munter.
»Danke, ich komme schon zurecht.«
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« So leicht gab sich die Frau, ganz zuvorkommende Bedienung, nicht geschlagen.
»Eigentlich nicht«, murmelte Lisa, während sie von denBlusen zu den Hosen ging, »ich weiß es vorläufig selbst noch nicht.«
»Sehen Sie sich doch einmal dieses Modell an. Sie haben blaue Augen, da steht Ihnen dieser Fliederton sehr gut. Der Effekt ist ganz enorm, Ihre Augen leuchten dadurch wie Veilchen. Schauen Sie hier in den Spiegel.« Die Verkäuferin hielt Lisa geschickt etwas Plüschiges, Kurzes und eng Tailliertes an, mit einem lang heruntergezogenen Kragen. »Wenn Sie dazu die ausgestellte lila Stretchhose tragen, sieht das einfach phantastisch aus.«
»Phantastisch vielleicht, aber nichts für mein Alter. Vor fünfzehn Jahren, ja, da hätte ich das bestimmt angezogen.«
»Was reden Sie da, Ma’am, Sie brauchen sich doch wirklich noch keine Gedanken um Ihr Alter machen.« Die Verkäuferin kniff schmeichlerisch die Augen zusammen. »Dazu gehört auch noch eine Wildlederweste, wenn Sie alle drei Teile kaufen, geben wir Ihnen einen Preisnachlaß.«
Lisa hatte schon fast kapituliert. Sie ging in eine Umkleidekabine, zog den Vorhang zu und probierte die Sachen an.
Aus dem Spiegel blickte sie eine bildhübsche, fremde junge Frau mit großen, leuchtenden Veilchenaugen und naiv-verzücktem Gesichtsausdruck an. Die aschblonden Haare waren leicht zerzaust, die hohen Wangenknochen etwas gerötet, und der Mund verzog sich wie von selbst zu einem idiotischen Lächeln.
Lisa stellte sich vor, wie ihre Kollegen gucken würden, wenn sie in diesem Teenie-Aufzug in Ostankino auftauchte. Ihr über Jahre hinweg aufgebautes Image als seriöse, korrekte, unnahbare Intellektuelle, sympathisch, charmant, aber beinahe geschlechtslos, wäre in wenigen Tagen dahin. Es würde zweideutige Anspielungen geben, Klatsch und Tratsch würden blühen.
Zweimal wöchentlich informierte Jelisaweta BeljajewaMillionen Fernsehzuschauer über die politischen Ereignisse, meist beunruhigende und unerfreuliche. Aber ihre einfachen, klaren, kaum merklich ironischen Kommentare trösteten die Leute. Nach ihrer Sendung hatte der Zuschauer nicht wie sonst das Gefühl, er lebe in einem Dreckhaufen und morgen gehe die Welt unter.
Von Anfang an hatte Lisa genug Verstand besessen, um nicht der Versuchung des schnellen Erfolgs zu erliegen. Vor fünf Jahren, bei ihrem ersten Fernsehauftritt als Nachrichtenmoderatorin, hatte sie sich geweigert, das übliche Make-up zu tragen, und erklärt, sie wolle nicht wie alle diese faden Püppchen aussehen. Niemand hatte sie damals verstanden, niemand, außer den Fernsehzuschauern.
Seitdem war sie kein einziges Mal wie ein verwöhntes Model auf dem Bildschirm erschienen, dem man ansah, daß Nerzmantel, Mercedes, Massagen, Fitness-Studio, Urlaub auf den Kanaren zu seinem Alltag gehörten. Sie war eine bodenständige Frau geblieben, eine kluge, ruhige, zuverlässige Gesprächspartnerin für Millionen. Dafür wurde sie geliebt.
»Toll! Die Hose sitzt wie angegossen!« gurrte die Verkäuferin, und ihr zu Hilfe kamen noch zwei weitere aus der Nachbarabteilung. »Glauben Sie uns, Ma’am, dieses Outfit ist wie geschaffen für Sie. Jetzt brauchen Sie nur noch die passenden Schuhe, eine Tasche und ein Tuch.«
All das wurde augenblicklich herbeigeschafft.
Lisa steckte gehorsam ihren Fuß in einen lila Wildlederschuh mit meterhoher, hufartiger Plateausohle, kam aber sofort zur Besinnung, schlüpfte zurück in die Umkleidekabine, zog energisch den Vorhang zu und die veilchenfarbene Pracht aus und kehrte zu ihrem damenhaften Aussehen zurück – schlichter grauer Pullover, legere graue Hose, schwarzer Schal, schwarzer französischer Mantel.
Die einfallsreichen Verkäuferinnen schlugen ihr daraufhinein klassisches dunkelblaues Kostüm vor, ein Abendkleid, einen dreiteiligen seidenen Hosenanzug und ein halbes Dutzend Blusen und Pullover. Ihre psychologische Attacke erlahmte erst, als ein neues potentielles Opfer die
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