Russische Orchidee
jetzt heftig bearbeiten, ihm den Kopf zurechtrücken und gleichzeitig versuchen, möglichst schnell ein psychiatrisches Gutachten über seine Unzurechnungsfähigkeit zu bekommen.«
»Begreift sie denn nicht, daß all das unser Interesse nur noch verstärken wird?«
»Offensichtlich nicht. Ich habe ja auch nicht gesagt, sie ist klug, ich habe gesagt, sie ist schlau.«
»Aber warum hat sie solche Angst? Egal, was passiert, die Sache ist nach vierzehn Jahren doch verjährt.«
»Trotz Verjährung, ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, erst recht ein Mord.«
Kapitel 33
Graf Michail Paurier war nicht imstande, die Zeitungen zu lesen, derart zitterten ihm die Hände. Unruhen in Kiew, Unruhen in Nishni Nowgorod. In Petrograd ein richtiger Aufstand, mit Blut, Panik und Plünderungen. In Jelza hatte man einen alten zaristischen General nackt ausgezogen und in einen Haufen Glasscherben geworfen.
Das »Neue Leben« druckte einen Aufruf des verrückten Trotzki. Jede Zeile atmete Haß und Chaos. Die »StimmeRußlands« brachte auf der ersten Seite Kerenskis hysterischen Appell: »An alle! An alle! An alle!«, als sei er eine Offenbarung.
»Wer sind denn diese ›alle‹?« murmelte der Graf. »Ich weiß nicht, was das heißen soll – ›alle‹.«
Die Bauern aus dem Nachbardorf betranken sich und rissen dann die Ikonen in der Dorfkirche herunter, warfen sie in der Nähe der Eisenbahnstation auf einen Haufen und steckten sie in Brand, darunter ein kostbares Bild des heiligen Nikolaus des Gerechten aus dem sechzehnten Jahrhundert und eine wundertätige Ikone der Gottesmutter von Iwersk. Noch vor kurzem hatten die Bauern Kerzen vor ihr aufgestellt und sie um Gnade, Gesundheit und Wohlstand angefleht.
Der lahme alte Priester humpelte in seinem sackleinenen Nachthemd aufgeregt um das Feuer herum und versuchte noch, das eine oder andere Stück zu retten. Man fesselte ihn, warf ihn zu Boden, flößte ihm Wodka ein und schrie, nun beginne für alle ein neues Leben, er könne dem Volk kein X mehr für ein U vormachen, auf diesen Holzbrettern sei alles erstunken und erlogen. »Da, guck nur, wie sie sich krümmen und biegen, deine Heiligen, guck sie dir nur an, du alter Hornochse!«
Auf dem Bahnsteig wirbelte der Wind den Staub und die Schalen von Sonnenblumenkernen in die Luft. Niemand fegte die Bahnsteige, die Bahnsteigwärter saßen den ganzen Tag im »Agrarkomitee«, lauschten finster den Reden von der Gleichheit aller Menschen und nickten zustimmend, voller Zorn und Haß auf den Stationsvorsteher. »Der kriegt uns nicht mehr an diese Drecksarbeit, soll er doch selber fegen.« Abends betranken sie sich bis zur Besinnungslosigkeit, randalierten und drohten, alle aufzuspießen, die es verdienten.
Es war eine schmutzige, trübe Zeit, trotz des klaren Wetters, das in diesen Tagen herrschte. Nachts sang im Wäldchen von Baturino die Nachtigall, so eindringlich, so verzweifelt, als sei es zum letzten Mal. In dem schwülen Nebengebäude standen alle Fenster weit offen. Die Türen klapperten laut in der Zugluft. Sonja kämmte ihr glänzendes schwarzes Haar und zuckte zusammen, wenn wieder einmal eine Tür zuschlug.
Zwischen Doktor Baturin und Graf Paurier fand ein klärendes Gespräch statt. Der Arzt verlangte nichts, und der Graf versprach nichts.
»Ich bin vor dir schuldig, Konstantin. Ich liebe deine Tochter sehr und weiß nicht, was morgen mit uns sein wird.«
»Dafür weiß ich es«, sagte der Arzt, ohne aufzuschauen, »morgen kommt deine Kaufmannstochter zurück und bringt dich und Sonja um. Und wenn sie es nicht tut, dann spießen die betrunkenen Deserteure uns alle auf ihre Bajonette. Ich kann keine Nacht mehr schlafen, Michail. Ich weiß, daß Sonja bei dir im Nebengebäude ist, aber ich sorge mich nicht deshalb, weil du verheiratet bist und sie fast noch ein Kind. Das spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt jetzt noch eine Rolle. Gestern habe ich Geburtshilfe in einer Bauernhütte geleistet. Eine schwierige Geburt, mit einer Sepsis wegen einer verdrehten Nabelschnur, die ganze Nacht habe ich mich abgemüht. Gegen Morgen reißt der Vater der Familie die Tür auf und sagt: ›He, du Quacksalber, wenn es ein Mädchen wird, stecke ich dir das Haus überm Kopf an.‹«
»Und was ist es geworden?«
»Ein Junge.« Baturin grinste schief. »Was meinst du, Graf, ist das alles nur ein böser Traum?«
Anfang August starb Jelena Michailowna, die Großmutter. Nachdem sie das Abendmahl empfangen hatte, rief sieden Sohn und die
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