Russische Orchidee
seidigblassen Himmel, großen, ungewöhnlich süßen und zahlreichen Erdbeeren und riesigen, strahlendhellen Sternen in der Nacht, so groß, wie man sie in Mittelrußland noch niemals am Himmel gesehen hatte.
Irina Paurier reiste auf Drängen ihres Vaters schon im Mai ins Bad Mineralnyje Wody. Tichon Boljakin hatte beschlossen, sich endlich ernsthaft um die Gesundheit seiner Tochter zu kümmern. Er glaubte dem Professor der Medizin, der gesagt hatte, sie brauche unbedingt Luftveränderung und eine spezielle Therapie, sonst werde ihr Zustand sich rapide verschlechtern und er könne für die Konsequenzen keine Verantwortung übernehmen.
»Es ist mir vollkommen unwichtig, was weiter mit uns sein wird«, schrieb Sonja Baturina in der Morgendämmerung des dritten Juni, »ich bin jetzt so glücklich, daß ich morgen ruhig sterben könnte, weil ich weiß, etwas Besseres wird es in meinem Leben nicht geben.
Vielleicht lebe ich ja noch sehr lange, und es wird noch viel geschehen, Gutes wie Schlechtes – aber ich weiß, ich werde jeden Augenblick an diesen Tag zurückdenken, an diesen ruhigen, windstillen, etwas zu kühlen Tag mit dem trüben Morgengrauen, dem mittäglichen Nieselregen und der hellen, zarten Abenddämmerung, an diese seltsame Nacht mitden eisigen, leuchtendhellen Sternen, die jeden Augenblick vom Himmel zu fallen und einen mit ihrem kalten Feuer zu verbrennen drohten. Jeder wie ein Kugelblitz.
Ich glaube, Papa hat alles begriffen, schweigt aber vorläufig, ist nervös und verwirrt. Er spielt immer noch mit Michail Paurier Schach, aber wenn er verliert, macht er ein Gesicht, als fände zwischen ihnen keine Schachpartie, sondern ein richtiges Duell statt, ein Gefecht mit Degen. Wenn ich an ihnen vorbeigehe, höre ich geradezu das gespenstische Sausen ihrer Waffen. Oder ist es nur das Sirren der ersten Mücken in der Luft?«
Konstantin Baturin wußte tatsächlich, daß sich zwischen dem Grafen Paurier und seiner Tochter eine Liebesbeziehung angebahnt hatte. Zuerst war ihm aufgefallen, daß der Graf mit dem Trinken aufhörte und erstaunlich jugendlich und schlank aussah. Dann bemerkte er den ungewöhnlichen Glanz in Sonjas Augen, fragte sich sogar erschrocken, ob sie etwa, wie manche dummen jungen Adelsfräulein, sich heimlich Baldrian in die Augen träufelte, damit sie glänzten.
»Vergiß nicht, das ist schädlich.«
»Wovon redest du Papa?« fragte Sonja erstaunt.
»Deine Augen glänzen viel zu sehr, und das kommt bekanntlich durch den Gebrauch von Baldriantropfen.«
»Du lieber Himmel, Papa«, lachte Sonja, »was für Baldriantropfen? Ich habe nur einfach gut ausgeschlafen und bin die ganze Zeit an der frischen Luft.«
»Daß du ausgeschlafen hast, glaube ich nicht«, meinte Konstantin Iwanowitsch kopfschüttelnd, »meiner Meinung nach schläfst du in der letzten Zeit überhaupt nicht. Du bist viel zu blaß, und noch dazu ganz mager und spitz geworden, mit Ringen unter den Augen.«
Und wirklich schlief Sonja nachts kaum noch. Sie wartete,bis es Mitternacht war, kletterte dann leise aus dem Fenster, sprang ins taunasse Gras, schlich sich mit angehaltenem Atem aus dem Garten und radelte zu dem Eichenwäldchen, das die natürliche Grenze zwischen Baturino und Boljakino bildete. Am Rand des Wäldchens wartete in einem Nebengebäude der Graf auf sie.
Konstantin Baturin merkte natürlich auch, daß Sonjas Fahrradausflüge zum Flüßchen Obeschtschaika immer häufiger wurden. Dort saß gewöhnlich der Graf und malte an seinen endlosen Landschaften. Er malte jeden Tag, brachte aber trotzdem kein Bild zu Ende.
»Ich spüre, daß zwischen Papa und Michail bald ein ernstes Gespräch stattfinden wird. Sie kämpfen auf dem Schachbrett so erbittert gegeneinander, als hinge davon etwas schrecklich Wichtiges ab. Michail hat Papa nun doch nicht erzählt, daß ich an die Front gehen wollte, er hat meinen Brief verbrannt. Zu Unrecht. Papa wäre ihm dankbar gewesen, und vielleicht … Nein, es gibt kein Vielleicht. Papa weiß zwar, wie das Eheleben auf Boljakino aussieht, aber trotzdem ist der Graf Paurier für ihn ein verheirateter Mann, und damit ist alles gesagt.
Gestern kam ein Brief von Olga Susdalzewa. Eine schreckliche Geschichte, die unserer früheren Mitschülerin Nadja passiert ist. Ich erinnere mich gut an sie. Ein stilles, freundliches, nicht besonders schönes Mädchen. Sie hat sich leidenschaftlich in einen bekannten Dichter, einen Symbolisten, verliebt und bei einer Lesung auf ihn
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