Russische Orchidee
Sie müssen es erzählen, sonst kommt er weiterhin jede Nacht zu Ihnen. Wollen Sie das?«
»Ich will nicht ins Gefängnis«, war die Antwort.
»Wer hat Ihnen gesagt, Sie müßten ins Gefängnis?«
»Ich weiß, Sie werden mir zureden, mir Versprechungen machen, aber Ljolja hat mich gewarnt, ich darf Ihnen nicht glauben. Sie sind Milizionär, und alle Milizionäre lügen. Ljolja hat gesagt …«
»Haben Sie denn keinen eigenen Kopf?« fragte der Hauptmann mitleidig.
»Ljolja hat gesagt, daß ich jetzt krank bin. Ich bin wirklich krank. Ich hatte einen Herzinfarkt. Zuerst muß ich wieder gesund werden, dann kann ich auf die Fragen fremder Leute antworten. Entschuldigen Sie, ich muß einkaufen. Alles Gute.«
»Wjatscheslaw Iwanowitsch, warum haben Sie im Krankenhaus nicht Ihre Tabletten genommen, sondern sie in einer Dose gesammelt?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich kann nicht schlafen. Kaum mache ich die Augen zu, dann erscheint er auch schon. Und deshalb hat man mir dort Schlaftabletten gegeben.«
Diesmal sah Jelena Butejko noch besser aus. Sie schien von Tag zu Tag jünger zu werden. Ein geschicktes, sorgfältigesMake-up, eine elegante Frisur. Ihre Kleidung wirkte schlicht, alltäglich, aber sogar Borodin, der sich mit Damenmode schlecht auskannte, merkte, daß Hose und Bluse aus einer teuren Boutique stammten.
»Guten Tag. Treten Sie bitte ein.« Jelena Petrowna schob sich mit einer koketten Handbewegung eine Haarsträhne auf der Stirn zurecht. »Ich habe Ihnen die Kassetten schon herausgelegt.« Sie nickte zum Eßtisch hinüber, wo die Video- und Audiokassetten in ordentlich aufgeschichteten Stapeln bereitlagen.
»Danke.« Borodin nickte erstaunt. »Wenn Sie erlauben, sehe ich sie aber doch erst noch durch, vielleicht sind darunter Kopien von denen, die ich beim letzten Mal mitgenommen habe.«
»Sagen Sie, ist es wirklich wahr, daß man Zweifel an der Täterschaft von Anissimow hat? Ich dachte, alles sei klar …«
»Für das Gericht muß alles bis ins letzte geklärt sein«, brummte Borodin, »leider darf ich Ihnen nichts über den Stand der Ermittlungen sagen. Entschuldigen Sie.«
»Aber ich bin doch schließlich die Mutter«, erklärte sie mit pathetischer Stimme, »ich habe ein Recht zu erfahren, wer meinen Sohn getötet hat.« Offensichtlich hielt sie nur mit Mühe ihre Angst und ihren Ärger im Zaum.
Sie war sehr bemüht, dem Untersuchungsführer zu gefallen, sein Mißtrauen zu zerstreuen, sie schenkte ihm großzügig ihr strahlendes Lächeln, aber ihre Augen irrten unruhig hin und her, sahen heimlich immer wieder zur Uhr. Als man das Rumpeln des Liftes hörte, zuckte die Butejko zusammen und wurde rot.
Borodin zog seinen Besuch absichtlich in die Länge, betrachtete die Beschriftung jeder einzelnen Hülle, drehte jede Kassette lange in den Händen.
»Entschuldigen Sie«, die Gastgeberin hielt es nicht mehraus, »ginge es nicht etwas schneller? Ich muß mich hinlegen, ich fühle mich nicht gut.«
»Ja, natürlich. Verzeihen Sie.«
Schließlich hatte Borodin die Kassetten sorgfältig in seiner großen Sporttasche verstaut und wandte sich zur Tür. Jelena Butejko entspannte sich und atmete erleichtert auf. Borodin öffnete die Tür, tat einen Schritt nach draußen, blieb dann aber stehen: »Ach, ich glaube, ich habe meine Brille auf dem Tisch liegenlassen.«
Er machte die Tür wieder zu, schritt entschlossen ins Zimmer zurück, schaute erst auf dem Tisch umher, bückte sich dann, um unter den Tisch zu sehen, zog dabei heimlich die Brille aus seiner Manteltasche, setzte sie sich auf die Nase, richtete sich wieder auf, blickte Jelena zerstreut an und äußerte laut: »Eins verstehe ich nicht, wie konnten Sie einem Kind erlauben, ein so wertvolles Stück mit in die Schule zu nehmen und es seinen Mitschülern zu zeigen?«
»Es war eine Kopie«, murmelte die Butejko mit starren, bleichen Lippen, »mein Mann hatte eine Kopie gemacht, nach der Zeichnung aus dem Katalog … Artjom war erst zwölf. Ihm gefiel die Geschichte von dem Huhn. Slawa hat dem Jungen so gern Geschichten über Edelsteine erzählt …«
»Wovor fürchten Sie sich?« wiederholte Hauptmann Kossizki zum x-ten Mal, während er auf den gesenkten Kopf des alten Mannes hinunterschaute, auf die gestrickte Kindermütze mit der Bommel darauf.
Vielleicht hatte Artjom diese Mütze als Kind getragen, und sein Vater trug sie jetzt auf? Sie lebten tatsächlich sehr bescheiden, fast schon armselig. Konnte es wirklich sein, daß ein
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