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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Enkelin zu sich, segnete beide und sagte dann deutlich: »Geht fort von hier.«
    »Wohin sollen wir denn gehen, Mama?« fragte der Arzt.
    »Ganz gleich wohin.«
    Im Wächterhäuschen auf dem Friedhof lebte ein Deserteur, ein Neffe des Wächters, ein riesiger, triefäugiger Kerl. Er kam heraus, um zuzuschauen, wie man die alte Gutsherrin zu Grabe trug, stand ganz in der Nähe und spuckte ununterbrochen auf den Boden. Der Graf hielt es nicht aus, trat zu ihm und sagte leise, durch die Zähne: »Verschwinde.«
    »Paß bloß auf, Erlaucht, beleidige mich nicht«, gab der Deserteur mit breitem Grinsen zurück. »Ich hab hier ’ne dolle Kanone, mit Bajonett. Da spieße ich dich drauf auf, und die Volksmacht wird sich dafür bei mir noch bedanken. Ein Scheusal weniger.«
    Michail Paurier holte schon zum Schlag aus, aber der Arzt hielt den Grafen noch rechtzeitig zurück, packte ihn am Ellbogen und flüsterte ihm ins Ohr: »Michail, sei vernünftig, laß ihn in Ruhe, es ist besser …«
    Am nächsten Tag brachte Tichon Boljakin Irina zurück. Wie sich herausstellte, hatte sie aus Mineralnyje Wody mehrere Briefe und Telegramme geschickt, aber nichts war angekommen. Die Post funktionierte fast gar nicht mehr.
    Energisch schritt die schlanker gewordene und jugendlicher aussehende Irina durchs Haus und schaute in alle Ecken. Die Dienerschaft, die sich dem Grafen gegenüber hatte gehenlassen, duckte sich wie zuvor, und für einen Moment schien es, als sei nicht nur in Boljakino, sondern in ganz Rußland wieder alles beim alten. Das Stubenmädchen und die Köchin küßten der Herrin die Hand, der Hofknecht Fjodor war nüchtern und verneigte sich tief.
    Im Nebengebäude fand Irina Sonjas Haarnadeln und ihren Kamm, dann erfuhr sie von dem StubenmädchenKlawdija, daß der Herr dort und nicht im Haus übernachtet habe und daß man unter dem Vordach, auf der Waldseite, das Fahrrad des Fräuleins von Baturino gesehen habe. Irina wurde kreidebleich, ihre Lippen wurden ganz blau, aber sie sagte zu niemandem etwas.
    »Wir müssen abwarten«, erklärte der Schwiegervater beim Mittagessen, »in Moskau rebelliert das Kneipengesindel, die Polizisten hängt man an Laternenpfählen auf, es gibt kein Recht und keine Ordnung mehr. Aber der Staat ist ein starker Mechanismus, und mit Gottes Willen wird sich das von selbst wieder einrenken, allem sozialrevolutionären Gefasel zum Trotz. Lange kann es nicht mehr so weitergehen.«
    In der Abenddämmerung brach Irina in ihrem neuen rosa Kleid zu den Nachbarn auf, sank dort in den Schaukelstuhl auf der Veranda, wischte sich das schweißnasse Gesicht mit einem Taschentuch ab, griff nach der auf dem Tisch liegenden Zeitung und wedelte sich damit so heftig Kühlung zu, daß ein kalter Luftzug die ringsum Sitzenden anwehte. Dann erzählte sie von ihrer Reise, von der Wildheit der Kaukasier, den unmöglichen Zuständen bei der Eisenbahn, und zum Schluß schaute sie Sonja freundlich an und sagte: »Geben Sie uns doch die Ehre und kommen Sie morgen zum Tee zu uns. Ich zeige Ihnen meine Mitbringsel, zwei persische Schals habe ich gekauft, Silberkrüge für Getränke und für Blumen. Wir haben georgische Walnußkonfitüre, sehr lecker, drei Gläser habe ich mitgebracht. Kommen Sie, und wir setzen uns gemütlich zusammen. Und dabei wollen wir auch Jelena Michailownas gedenken, Gott schenke ihr ewige Ruhe, der lieben Seele. Eine gute Frau war sie.«
    »Danke, Irina Tichonowna«, murmelte Sonja.
    »Sie kommen also?«
    »Ja, natürlich, wir kommen. Danke«, erwiderte der Arzt schnell.
     
    Den Tee tranken sie im Gartenpavillon. Sonja blickte in die zitternde Flamme der Petroleumlampe, so lange und so starr, bis vor ihren Augen grell-orange Kreise tanzten. Der Graf verzehrte gottergeben die georgische Konfitüre. Die Gräfin hatte ihm vorsorglich ein ganzes Schälchen hingestellt, und er aß, ohne etwas zu schmecken.
    Boljakin schimpfte über den Trottel Kerenski, über den erneuten Kabinettswechsel in der Regierung, die eigentlich nur noch zum Schein existierte.
    »Aber der gefährlichste von all diesen Schwätzern, der schlaueste und gewissenloseste ist Lenin. Er hat deutsches Geld im Rücken, er lügt frecher als alle anderen, und vor allem lügt er gekonnt, dieser nuschelnde Teufel, er weiß, wie man das Proletenpack ködern kann. Mögen sie rauben und plündern, diese Nichtstuer, auf fremde Kosten fressen und saufen. Die Fabriken den Arbeitern, das Land den Bauern, stehlt nur und mordet. Ihr seid Proletarier,

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