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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten. Stellt euch mit dem Morgenstern in der Hand als Wegelagerer an die Hauptstraße. Ich erlaube es euch. Natürlich laufen diese Hungerleider so einem Mann hinterher, der ihnen zu Mord und Raub auch noch seinen Segen gibt. Aber was wird sein, wenn sie alles Geraubte versoffen und aufgefressen und Rußland endgültig ins Elend gestürzt haben?«
    »Warum essen Sie denn gar nichts, Sonja?« fragte Irina leise. »Probieren Sie doch wenigstens die Konfitüre. Kränken Sie mich nicht, meine Liebe.«
    »Danke, ich habe sie schon probiert, sie schmeckt sehr gut.«
    »Aber Ihr Schälchen ist doch noch ganz voll.«
    »Als Kind war Sonja ein richtiges Schleckermaul«, sagte der Arzt, während er seine Papirossa in die Zigarettenspitze steckte, »aber jetzt macht sie sich gar nichts mehr aus Süßem.«
    »Konstantin, gib mir eine Papirossa«, bat der Graf mit heiserer Stimme.
    Als das Streichholz aufflammte und sein Gesicht beleuchtete, sah der Arzt, daß Michail Iwanowitsch furchtbar bleich war. Seine Augen waren eingefallen, seine Lippen blau verfärbt.
    »Ist dir nicht gut?« fragte er leise.
    »Nein … Alles in Ordnung …«
    »Vielleicht hast du Fieber?« Der Arzt hielt ihm die Hand an die Stirn. Die Stirn war eiskalt und feucht. »Michail, du mußt dich hinlegen. Du bist krank. Gehen wir.«
    »Vielleicht hast du zuviel Konfitüre gegessen?« vermutete der Kaufmann.
    Irina saß zurückgelehnt im Sessel und schwieg. Ihr Gesicht war in der Finsternis nicht zu sehen. Ihre großen, vollen, von der Sonne des Kaukasus gebräunten Hände klammerten sich so fest um die Armlehnen, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. Aus der Dunkelheit schaute sie Sonja an.
    »Ja, ich will mich etwas hinlegen«, sagte Michail mit sonderbar fremder, heiserer Stimme, »es brennt im Innern.«
    Er erhob sich, ging aus dem Gartenpavillon, machte ein paar Schritte und fiel in das nasse schwarze Gras. Der Arzt und Sonja liefen zu ihm. Irina blieb wie versteinert sitzen.
    Sonja und ihr Vater hoben den Grafen mit einiger Mühe wieder hoch, führten ihn zum Haus und betteten ihn auf die Chaiselongue auf der Veranda.
    »Lauf nach Haus, Sonja, weck Semjon auf und bring mein Köfferchen her, es steht im Arbeitszimmer neben dem Ofen. Schnell, schnell … He, ist denn keiner da, ich brauche Wasser, viel Wasser, einen ganzen Eimer voll! Wo seid ihr denn alle, seid ihr gestorben? Habt ihr Kaliumpermanganat? Wo ist das Stubenmädchen?! Halt, Sonja, warte! Hast du von der Konfitüre gegessen?«
    »Nein.«
    »Bestimmt nicht? Keinen Löffel?«
    Sie schüttelte den Kopf und rannte fort in die Dunkelheit, durch das Wäldchen nach Baturino.
    Mit schweren Schritten stieg Irina die Stufen zur Veranda hoch, ihr Vater folgte ihr. Der Kaufmann war in diesen wenigen Minuten um Jahre gealtert. Er schaute bald auf den sterbenden, heiser röchelnden Grafen, bald auf seine Tochter.
    »Seine Erlaucht haben zuviel Konfitüre gegessen«, sagte Irina ruhig, »ich hätte sagen sollen, daß man nicht zuviel davon essen darf. Die unreife Haut der Walnüsse enthält schädliche Substanzen.«
    »Michail Iwanowitsch hat eine Arsenikvergiftung«, sagte der Arzt, »man muß den Priester und den Dorfpolizisten holen.«

Kapitel 34
    Der Hauptmann mußte lange auf Butejko warten. Endlich hörte er, wie oben im Haus eine Tür klappte und eine Frauenstimme laut sagte: »Hast du mich verstanden, Slawa? Wenn es kein Schwarzbrot gibt, dann nimm Roggenbrot, aber auf keinen Fall das runde. Und vergiß nicht, in die Apotheke zu gehen.«
    »Ja, Ljolja, ich habe verstanden.«
    Butejko trat mit einem Stoffbeutel in der Hand aus dem Lift, sah sich gehetzt um, als hätte er gespürt, daß jemand im Treppenhaus war, ließ seinen Blick über Kossizki gleiten, schien ihn aber nicht wiederzuerkennen.
    »Wjatscheslaw Iwanowitsch«, rief der Hauptmann ihn leise an.
    Butejko blieb wie angewurzelt stehen, die Klinke der Haustür in der Hand, und wandte langsam den Kopf.
    »Entschuldigung … Was wünschen Sie?«
    »Sie wollten mich doch treffen.«
    »Ich? Sie? Wer sind Sie denn?«
    »Hauptmann Kossizki.«
    »Entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht.«
    Im Treppenhaus war es recht hell. Eine Sekunde lang schauten sie einander in die Augen. Der alte Mann senkte den Kopf. Die Bommel auf seiner Kindermütze zitterte leicht.
    »Wjatscheslaw Iwanowitsch«, sagte Kossizki leise, als sie auf die Straße traten, »der Fall ist verjährt. Sie haben nichts zu befürchten. Aber

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