Russisches Abendmahl
der Wand, einen halben Meter über dem Wasserspiegel - ein vorübergehendes Versteck, das die nächsten vierundzwanzig Stunden über trocken und unentdeckt bleiben muss.
Ich nicke Lipman zu, dass wir fertig sind. Kein überflüssiges Reden mehr. Gebückt schieben wir uns beim Licht seiner flackernden Kerze durch die engen Katakomben - der Kunsthistoriker, Kamil und dann ich, zumal der Einsatz der Halsschlinge inzwischen nicht mehr undenkbar ist. Mein Stumpf pocht vor Schmerzen, deswegen fällt es mir nicht schwer, weiterhin den humpelnden Krüppel zu markieren. Lipman war nicht mit uns auf dem Boot, er weiß noch nicht, wozu ich fähig bin. Die Wände sind aus rostfarbenem Backstein, spinnwebenartig mit einem Zoll dicken schwarzen Mörtelsäumen überzogen. Bei jeder Gabelung bücke ich mich und sprühe eine unsichtbare Linie auf den Boden, die später im Schwarzlicht grün leuchten wird.
Lipman bewegt sich immer vertrauter, je weiter wir kommen. Hin und wieder wirft mir Kamil einen Blick über die Schulter zu. Nicht weil er sich Sorgen um mein Wohlbefinden machen würde. Fünf schleppende Minuten später weitet sich der Tunnel, der raue Steinboden wird zu weicherem, ebenem Beton, und bald schon flackert die Kerze gegen eine fensterlose Metalltür. Schlüssel rasseln laut in der Stille, bis Lipman den richtigen gefunden hat und die Tür aufdrückt. Wir treten in einen mit Holzkisten vollgestellten Gang, die meisten von ihnen mit Planen abgedeckt, manche ungeschützt, durchgebogen und am Verrotten. Alle unter einer dichten Schicht Staub begraben.
Lipman biegt in eine kleinere, ähnlich mit ausrangierter Kunst vollgestopfte Kammer. Während er die Kerze auf eine Kiste stellt, schließe ich hinter uns die Tür, knipse meine Handlampe an und tauche den engen Raum in gräuliches Licht. Ratten huschen umher, Staub wirbelt auf, Stapel nehmen Gestalt an, Gipswände mit Wasserflecken wölben sich zu einer Hohldecke.
»Helft mir«, flüstert Lipman und fängt an, zwei Reihen Kästen an der gegenüberliegenden Wand vom Stapel zu nehmen. Kamil geht ihm zur Hand und nach einer Minute heben sie den letzten Kasten zur Seite.
Wir stehen vor einer Doppeltür auf schmiedeeisernen, im Fußboden versenkten Angeln. Lipman hat uns erzählt, dass er das Schloss vor weniger als einem Jahr angebracht hat, ein paar Tage, nachdem er den Ort entdeckt hatte. Aber es sieht bereits alt aus. Ich hocke mich neben Kamil und sehe Lipman zu, wie er den Schlüssel umdreht, das Schloss öffnet und die quietschenden Türen aufdrückt. Eine unebene Steintreppe führt hinunter in die Dunkelheit.
»Mir nach«, sage ich zu Lipman, weil ich will, dass er hinter mir geht und nicht Kamil.
Ich zähle zehn Stufen bis zu einem Absatz, dann weitere zehn, die seitlich in eine in den Fels geschlagene Höhle führen. Wir befinden uns tief im Fundament der Eremitage, weit unter den hell erleuchteten, weitläufigen Hallen des Museums. Über hüfthohen kastenförmigen Objekten liegen Wachstücher. Wie ein Zelt hängt eine Plane über einem kleineren Gegenstand, der allein in der hintersten Ecke steht. Lipman zufolge ist Leda 69,3 × 74,0 cm groß, auf einer Leinwand, nicht auf drei, wie manche Historiker glaubten. Der Gegenstand unter der Plane scheint das richtige Format zu haben.
Lipman geht langsam darauf zu, ehrfurchtsvoll, als könnte das Gemälde weglaufen oder einfach verschwinden. Er bleibt einen Augenblick stehen, holt tief Luft und zieht dann wie ein Zauberer die Plane weg.
Wie versteinert starre ich auf das Gemälde. Der Mignard ist nicht mehr da. Lipman hat Leda zusammen mit einem münzgroßen Temperaturmesser, der zwanzig Grad Celsius anzeigt, in einen Glaskasten gelegt.
Aber diese Dinge registriere ich nicht bei vollem Bewusstsein.
Das Bild ist alles. Selbst im grellen Licht meiner Lampe schimmert seine opalisierende Schönheit. Die Zeit hat ihren unvermeidlichen Tribut in Form von kleinen Rissen und einer leicht verdunkelten Oberfläche gefordert, aber Ledas opulente Figur in der schneeweißen Umarmung des Schwans ist in leuchtendes Muschelrosa getaucht, wie auch die Babys, die sich neben ihrer rundlichen Wade in zerbrochenen Eiern winden. Sie steht vor einer Lichtung phallischen Schilfrohrs, genau wie Leonardos Kreidestudien sie zeigen. Es ist ein Tanz des Chiaroscuro, choreographiert von den magischen, fünfhundert Jahre alten Pinselstrichen des Meisters.
Jedweder Schaden durch Transport oder den Lauf der Zeit ist offenbar dank des
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