Russisches Abendmahl
gewissenhaften Personals und der Ausstellungsbedingungen der Eremitage - indirektes Licht, fünfundvierzig Prozent Luftfeuchtigkeit, einundzwanzig Grad Celsius - auf ein Minimum reduziert worden. Ein perfektes Versteck, in dem sich dieses Meisterwerk fast dreihundert Jahre lang eingenistet hat - ausgerollt und eingerahmt hinter dem Schutz einer anderen Leinwand -, bis es schließlich von einem schmächtigen Schweizer Kunstrestaurator enthüllt wurde.
Ich knipse die Lampe aus und tauche das Gemälde in das UV-Licht an meinem Handgelenk. Im Schwarzlicht lassen sich Korrekturen auf der Leinwand feststellen, die man auch an beglaubigten Originalen findet, wie ich weiß, aber ich suche nach offensichtlichen Mängeln. Der Hals des Schwans weist Anzeichen einer Korrektur auf, und Ledas Oberschenkel sieht aus, als hätte er bläschenförmige Dellen, die ich bei normalem Licht nicht gesehen habe, aber ansonsten gibt es keine groben Unregelmäßigkeiten, die das Bild entwerten würden.
Ich schalte die Lampe wieder an und untersuche den Rahmen. Er ist aus Eiche und hat mehrere Risse. Eiche ist ein gutes Zeichen. Valjas Nachforschungen haben ergeben, dass solche Rahmen in der frühen europäischen Malerei benutzt wurden, und die von Lipman bestimmte Herkunft, sowie die Tatsache, dass die Leinwand ordentlich aufgezogen bleiben muss, weisen darauf hin, dass dieses Meisterwerk hier noch in seinem ursprünglichen Rahmen steckt. Der Rahmen ist dicker, als ich erwartet habe, tatsächlich fast doppelt so dick, scheint aber in gutem Zustand zu sein. Das Holz kann man mit Hilfe der Baumringe datieren, wobei man Abstände und Anzahl der Ringe mit der Baumringgeschichte eines bestimmten Gebiets vergleichen muss, um zu ermitteln, wo und wann der Baum gefällt wurde. Wenn man dann das Trocknen, den Bau und die Lagerung abzieht, kann ein Zeitraum von fünf bis zehn Jahren errechnet werden, in dem das Gemälde gerahmt wurde.
Dies und kompliziertere Tests wie Pigmentanalyse, Röntgenaufnahmen, Infrarot-Reflektographie, rasterelektronenmikroskopische Untersuchung und Pinselstrichvergleiche müssen später gemacht werden. Ich hatte keine Ahnung gehabt, worauf ich mich bei dieser Sache einließ. Das Ganze hätte ein vollkommen aussichtsloses Unterfangen sein können, aber nun sehe ich einen Funken Hoffnung am Horizont. Jetzt, wo ich hier vor ihr hocke, weiß ich instinktiv, dass Leda das Werk des Meisters ist.
»Komm in vierundzwanzig Stunden wieder«, sage ich zu Lipman und betrachte weiter das Gemälde, während er geht.
11
Sechs Blutegel-verseuchte Monate in einer tschetschenischen Schlammgrube haben mich einige Lektionen gelehrt, unter anderem, dass vierundzwanzig Stunden reines Warten gar nichts ist. Eine Stunde in Erwartung des nächsten Überraschungsangriffs von Vergewaltigern, Filettierungs-Künstlern, Fleisch verbrennenden Pyromanen und diversen anderen Peinigern bleibt hingegen wochenlang in Erinnerung.
Verglichen damit ist das hier das Waldorf-Astoria. Aus den Wänden tropft die Feuchtigkeit. Ich esse einen Proteinriegel, den Kamil gierig beäugt. Es gibt auch noch anderes zu essen, aber ungekochte Ratten sind sehnig und fettig, und ganz davon zu schweigen auch schwer zu fangen und zu töten. Außerdem braucht man einige, um daraus eine Mahlzeit zu machen, also bleibe ich die restliche Zeit lieber hungrig. Arkadij muss Valja gefunden haben, ohne geschnappt worden zu sein, da bin ich mir sicher. Andernfalls hätten wir schon das Stampfen der Stiefel der Palastwache und der Polizei gehört.
Zweiundzwanzig schlaflose Stunden liegen vor uns, und Kamils linke Hand tastet sich langsam dorthin vor, wo ich die Halsschlinge griffbereit vermute. Ich stehe mit dem Rücken an die Wand gelehnt neben dem wieder zugedeckten Gemälde. Die Kälte schleicht mir durch Kleider und Haut in die Knochen.
Als wir nur noch eine Stunde zu warten haben, knurrt Kamil: »Erzähl mir den Plan, für den Fall, dass du stirbst.«
Der ironische Subtext seiner Frage bringt mich zum Lächeln, zumal meine wahrscheinlichste Todesursache innerhalb der nächsten Stunden die Halsschlinge in seiner Hand ist. Als Kind hatte Valja einen Borsoi, einen russischen Wolfshund so groß wie ein Pony. Er wurde eingeschläfert, als er ihren Onkel nach einem seiner inzestuösen Übergriffe zu Tode gebissen hatte. Wenn ich so lächle wie jetzt, erinnere ich sie an ihren blutbespritzten Borsoi, nachdem er mit ihrem Onkel fertig war.
»Nein«, antworte ich. »Ich will, dass du
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