Russisches Abendmahl
wackelt ein Teil des Gitters und fällt in Zeitlupe nach hinten weg. Wir schwimmen hindurch, setzen das fehlende Stück wieder ein, damit es einer flüchtigen Kontrolle standhält, verstecken das Werkzeug und gelangen ins Tunnelsystem mit einer wasserdichten Karte, die ich nach Lipmans Jahrhunderte alter Zeichnung angefertigt habe. Mit Algen überzogene Mauern werfen den Schein unserer Lampen zurück, während wir uns den geplanten Weg durchs Wasser bahnen, bis eine Mauerzunge den Tunnel überraschend teilt.
Zwanzig unschlüssige Sekunden später reiße ich den Daumen in Richtung Tunneldecke. Wir tauchen an die Oberfläche und schnappen nach einer Handbreit verbrauchter Luft unter der schwammig-glitschigen Steindecke.
»Ich gehe«, sage ich. »Bleib du hier mit der Lampe, damit ich zurück finde.«
Seine Lippen sind blau. »Wie lange?«
Das ist eine gute Frage. Wir haben kleinere Sauerstoff-flaschen genommen, weil sie leichter und unauffälliger waren, aber inzwischen haben wir wertvolle Zeit - fast fünfundzwanzig Minuten - und kostbaren Sauerstoff verbraucht. Wir müssen dieselbe Strecke noch zurück. »Fünf Minuten. Dann probiere ich die andere Seite.«
Wir tauchen wieder unter, und er leuchtet mir den Weg, während ich mich durch den Tunnel schlängele. Wegen einer leichten Krümmung ist seine Lampe binnen Sekunden nicht mehr zu sehen. Nach fünfzehn Metern taucht eine neue Gabelung vor mir auf. Ich werfe einen Blick auf die Karte, entscheide mich für links, strampele weniger als zehn Meter weiter und stoße auf eine Eisenplatte in der Größe eines Schachtdeckels. Ich löse das Stemmeisen von meinem Gurt, setze das gebogene Ende an und drücke den Deckel halb auf. Der Strahl meiner Lampe scheint mehrere Meter in einen dunklen Schaft. Er scheint breit genug zu sein. Es ist mit ziemlicher Sicherheit der Tunnel, den wir nehmen wollten. Mir bleibt keine Zeit, die andere Seite der Gabelung auszuschließen, das hier muss also genügen.
Der Rückweg geht schneller. Bevor ich um die letzte Kurve biege, schalte ich die Lampe aus und taste mich an der Wand vorwärts. Ich bin zu früh. Kamil hat die Lampe noch an, sieht aber nicht in Richtung des Strahls. Er fummelt an zwei Stahlringen herum. Mehr kann ich nicht erkennen, aber ich weiß, dass sie durch einen Draht miteinander verbunden sind.
Die Halsschlinge ist für mich. Die Frage ist nur, wann?
Ich mache kehrt, zähle bis dreißig, knipse das Licht an und schwimme los. Die Schlinge ist weg. Er nickt, als ich mit dem Daumen nach oben zeige, und wir schwimmen Seite an Seite zum Schaft. Er wird mich kaum aus dem Weg räumen wollen, bevor wir das Gemälde haben, also schieße ich vor ihm in die zerklüftete Röhre und überprüfe mit einem Auge den Tiefenmesser an meinem Handgelenk. Auf der Höhe von sechs Metern öffnet sich die Seitenwand des Schafts auf einen breiten, schräg nach oben führenden Eingang - eine ehemalige Laderampe für Pferdewagen, die Güter in den Winterpalast des Zaren brachten, bevor das ansteigende Wasser der Newa sie überflüssig machte.
Auf mein Zeichen hin löschen wir die Lampen und folgen der Schräge nach oben, bis wir Lipmans durch das Wasser verzerrte, flackernde Kerzenflamme sehen, das Zeichen, dass er allein in den Katakomben ist, unterhalb Tausender der großartigsten Kunstwerke der Welt. Noch zwei Züge, dann stoße ich an die Oberfläche. Kamil kommt neben mir zum Vorschein. Lipman hält schützend die Hand vor die Flamme, in der Zugluft zittert er wie sein Liebhaber.
»Was ist auf dem Fluss los?« Sein Unterlippenbart bebt.
Ich lege meinen Neoprenanzug ab. »Was hast du gehört?«
»Da oben herrschte eine ziemliche Aufregung. Jemand meinte, Drogenkuriere hätten ein Polizeiboot in die Luft gejagt.«
Ich hätte mir keine bessere Erklärung ausdenken können. »Dann wird es wohl so gewesen sein.«
Ich packe aus. Schnalle eine UV-Handlampe und die Sig an, die in einem wasserdichten Beutel geschützt war. Mein Tauchermesser wandert vom Knöchel des Neoprenanzugs in eine Scheide am mittleren oberen Rückenbereich. Zuletzt rolle ich den wasserdichten Transportrahmen aus und kontrolliere ihn akribisch auf Löcher. Zufrieden trockne ich ihn mit einem Lappen, den Lipman zu diesem Zweck mitgebracht hat, von oben bis unten ab, rolle ihn wieder zusammen und stecke ihn in einen Riemen an meinem Rucksack.
Den Rest unserer Ausrüstung packen wir in einen Nylonbeutel und lagern ihn unter einem vom Wasser ausgehöhlten Vorsprung in
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