Russisches Abendmahl
essen und einen Platz zum Schlafen. Als sie sich sicher wähnte, fiel sie in einen tiefen Schlaf, der damit endete, dass sie einen Gewehrhieb verpasst bekam und erneut gefesselt und vergewaltigt wurde. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen, sagte sie später, war ihr Geruch.
Sie hat noch diverse ähnliche Geschichten erlebt, an einem Ort wie Tschetschenien nichts Ungewöhnliches. Diese Dinge hat es in Zeiten des Krieges immer gegeben, aber als ich in Ketten vor ihr stehe und ihr wachsbleiches Gesicht betrachte, denke ich, dass vielleicht die schlimmste Form der Vergewaltigung ist, ihr ein gesundes Körperteil abzutrennen.
»Wie lange hat sie, bis man ihn nicht wieder anbringen kann?« Meine Stimme klingt immer noch fremd.
Der rundliche Mann, der aussieht wie ein Chirurg, blinzelt mit den Augen und räuspert sich. Aber es ist Strahow, der antwortet.
»Sie haben gehört, was er gesagt hat. Sie haben eine Woche. Alles darüber hinaus spielt keine Rolle mehr.«
Der Arzt tritt von einem Bein aufs andere. »Die Nerven können innerhalb von Stunden Schaden nehmen. Sie überleben es nicht, wenn …«
Er bricht mitten im Satz ab, als Strahow ihn mit seinem Blick durchbohrt. Seine Worte haben ihn in Gefahr gebracht. Ich frage mich, was ihn zwingt, seinen Beruf unter diesen Umständen auszuüben.
»Halt den Mund.«
»Was bedeutet das, Strahow?«, frage ich.
»Sehen Sie einfach zu, dass Sie schnell wieder hier sind«, krächzt er.
»Ich werde das Bild nicht rechtzeitig finden können.«
»Pech.«
»Geben Sie ihr den Fuß wieder. Behalten Sie sie von mir aus als Pfand hier. Ich tue alles, was Sie von mir verlangen.«
»Das würden Sie sowieso.«
Am liebsten würde ich ihn bis zum Hals eingraben, ihm mit einem Stahlkappenstiefel seinen großen Kopf abtreten und ihn rausreißen, sodass die Wirbelsäule wie eine blutige Wurzel daran hängen bleibt.
Als er mit dem Finger schnippt, erscheinen die Wachen. Ich schaue Valja an, bis er mich wegreißt und zurück in den Hof führt, wo er mir Haube und Handschellen abnimmt. Es ist Nachmittag. Niedrige schieferfarbene Wolken kündigen Regen an. Er stößt mich in denselben Van, mit dem wir am Flughafen abgeholt wurden. Segelohr fährt durch das bogenförmige Tor hinaus und rattert durch die engen Straßen.
»Wer ist er?«, frage ich.
Statt zu antworten starrt Strahow auf die Turmspitzen in der Ferne.
Wir kommen auf einen Kopfsteinpflasterplatz voller Touristen. Menschen und hupende Autos bringen uns zum Halten. Ich habe weniger als eine Woche, um Lipman und die Leda zu finden. Ich weiß nicht, ob das machbar ist. Ich stelle fest, dass ich ohne es zu merken, ein Loch ins Sitzpolster gebohrt habe.
»Das Mädchen«, sagt Strahow, und sein Kopf hüpft.
»Valja. Retten Sie sie. Und verschwenden Sie nicht ihre Zeit damit, sich Gedanken über ihn zu machen.«
Er meint Peter. Das ist seine Art, meine Frage nach seiner wahren Identität zu beantworten. Die Leute auf dem Platz sehen alle zur gleichen Zeit nach oben. Große glitzernde Hände auf einer Uhr an der Mauer des Turms, der über den Platz ragt, schlagen vier Uhr. Filigrane Räder bewegen miteinander verkettete Mechanismen. Ein goldenes astronomisches Zifferblatt mit Tierkreiszeichen reflektiert das Sonnenlicht. Fenster fliegen auf, mechanische Apostel und Skelette führen einen klingelnden Schicksalstanz auf und die höhnisch grinsende Figur des Todes läutet vier Mal die Glocke.
Das Spektakel ist beendet und die Touristen strömen auseinander. Die Jüngeren unter ihnen sehen enttäuscht aus. Filme und Videospiele mit perfekter Animation, in denen man Gehirn spritzen sieht, sind harte Konkurrenz für Reliquien aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
Ich hole tief Luft. »Wenn Valja weiteres Leid angetan wird oder ihr Fuß nicht wieder in Ordnung kommt, werde ich jeden töten, der mit dieser Sache zu tun hat.« Natürlich lüge ich. Ich werde sie so oder so töten.
Segelohr haut den Gang rein und steuert den Wagen durch die Menge. Strahow starrt weiter aus dem Fenster.
»Dafür sind Sie bekannt«, sagt er und gähnt.
20
An der Kaprova Straße lassen sie mich vor einem Secondhandladen raus. Ich kaufe mir ein altes Jackett, eine Goldrandbrille ohne Stärke und einen albernen Filzhut und laufe durch das Labyrinth der engen Straßen und Gassen.
Das Intercontinental Hotel steht direkt an der Moldau. In den Straßen ringsum reihen sich Läden mit Designermode und Schmuck aus Italien, Frankreich und Amerika
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