Russisches Abendmahl
mich das beharrlich klingelnde Nokia. Das Geräusch wiederholt sich so oft, bis es mein Hirn entzwei zu sägen droht. Ich gehe ran, ohne etwas zu sagen.
»Volk?«
Ich kann die Stimme nicht zuordnen. »Wer ist da?«
»Juri«, sagt der Knüppel schwingende Bulle. »Ich stehe vor dieser Galerie. Weißt du, die, wo du die aufgehängte Leiche gefunden hast.«
»Und?«
»Da ist Licht an.«
Die Digitaluhr neben meinem Bett zeigt 2 Uhr 54 an. »Warte dort auf mich«, sage ich zu ihm und lege auf.
30
Der Mercedes gleitet über nasse Straßen und bringt mich innerhalb von Minuten zum Park am Neujungfrauenkloster. Juri wartet im Schatten am Luzhnetski Prospekt und schlägt seinen Gummiknüppel gegen den Mantel. Er klettert in den fahrenden Wagen. Ich mache die Scheinwerfer aus, rolle um die Ecke und bleibe hinter einem dunklen Lieferwagen stehen, der am Bordstein gegenüber der Galerie parkt.
Juri hatte recht. Hinter dem Eisentor leuchtet das Schaufenster in diffusem Bernsteingelb. »Schlüssel?«
Er reicht mir den großen Eisenschlüssel vom letzten Mal. »Weißt du noch den Alarmcode?«
Ich nehme den Schlüssel und drücke leise die Tür zu, ohne seine überflüssige Frage zu beantworten. Er folgt mir genauso leise.
»Warte hier«, flüstere ich. »Sei vorsichtig.«
Er wirft einen Blick auf die leeren Straßen. »Weswegen?«
»Wegen dem, der da drin ist«, sage ich zu ihm und zeige auf die Galerie.
Ich lasse ihn stehen und nähere mich dem Eingang. Der Schlüssel dreht sich, ich drücke, und das Gitter geht langsam und fast ohne zu quietschen auf. Dann bin ich drinnen, gehe in die Hocke, um ein kleineres Ziel abzugeben. Das Licht an der Alarmanlage leuchtet grün. Sie ist nicht eingeschaltet.
Ich halte kurz inne, um mich zu orientieren. Ziehe die Sig. Hole das Messer aus der Aushöhlung in meiner Prothese. Der Griff aus Haifischleder fühlt sich beruhigend an, auch wenn er mich an die Zeit erinnert, zu der wir in Grosny Rebellen aus den Löchern ihrer zerbombten Häusern holen mussten. Die meisten der ausgebrannten Gebäude waren sowohl von Unschuldigen besetzt als auch von den Guerillas, nach denen wir suchten. Es war ein Kampf auf engstem Raum und auf unbekanntem Terrain, überall lauerten aufgeklappte Messer, Pumpguns mit Stolperdrahtauslösern, Selbstmordattentäter mit Maschinengewehren, Landminen und - was das Schlimmste war - Kämpfer, die Kinder als menschliche Schutzschilde missbrauchen.
Ich klemme mir das Messer zwischen die Zähne und rutsche auf dem Hintern vorwärts, die Sig in der Hand. Durchquere den erleuchteten verchromten Eingangsbereich hin zu einer Ecke vor der Doppelschwingtür. Im Ausstellungsraum hinter der Tür ist es dunkel.
Ich horche angestrengt nach Geräuschen und achte auf den geringsten Luftstrom, der auf eine menschliche Bewegung hindeuten könnte. Nichts bewegt sich, nichts ist zu hören.
Ich warte.
Eine Hupe tutet in der Ferne. Ein Auto oder Laster poltert die Straße entlang. Jemand zieht Luft durch die Nase ein, nur ein ganz kleiner Atemzug, aber ausreichend genug, um zu wissen, dass er links hinter der Tür sitzt.
Zeit zu handeln. Schnell oder langsam, beides hat Nachteile. Ist Geschmackssache. Ich entscheide mich für schnell. Hechte durch die Tür und mache einen Satz zur Seite. Stürze weiter, als ich das Singen einer schallgedämpften Kugel höre, die neben mir in der Wand einschlägt. Stürme mit gezogenem Messer wie ein wild gewordener Stier auf ein menschliches Knäuel zu, das voller Panik seine Waffe fallen lässt.
»Nein!«, brüllt er, als ich ihm die Sig in den Bauch ramme, um den Schuss abzudämpfen, und zweimal hintereinander abdrücke. Er stöhnt und bricht röchelnd zusammen. Ich wirble herum, um einen Blick in den Raum zu werfen - zu spät. Die schwingende Tür sagt mir, dass ein zweiter Mann soeben die Galerie verlassen hat. Ich hoffe, dass Juri gewappnet war.
Der Mann am Boden spuckt Blut und wirft sich hin und her. Ich greife mit der Faust in sein Haar und drehe seinen Kopf zu mir, damit ich sein Gesicht sehen kann. Ein blutüberströmtes fleischiges Kinn, aufgerissene Nasenlöcher, panischer Blick - die Augenfarbe ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Niemand, den ich kenne. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wer weiß das schon in so einer Situation? Also mache ich es so, wie ich es am liebsten hätte, und jage ihm eine Kugel in den Kopf.
Ich ziehe eine Taschenlampe aus meiner Manteltasche und leuchte durch den Raum. Die Galerie sieht fast
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