Russisches Abendmahl
genauso aus wie an jenem Abend, an dem Valja und ich Arkadij kopfüber aufgehängt fanden. Er ist lange weg. Nur der getrocknete Fleck von dem, was aus seinem Körper geflossen war, ist zurückgeblieben, sowie zerknülltes Absperrband, weggeworfene Plastiktüten und kreidiges Fingerabdruckpulver. Auf dem Fußboden neben der Wand steht eine Maschine. Als ich näher komme, sehe ich, dass es ein nagelneuer Generator ist. Daneben steht eine Säge mit einem glänzenden Blatt. Laut Inschrift ist sie diamantgeschliffen und schneidet durch Beton.
Ich nehme mein Messer, schalte die Lampe aus und laufe nach draußen. Meine kurze Durchsuchung hat weniger als dreißig Sekunden gedauert - zu lange, vielleicht - aber ich glaube nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Juri war unvorbereitet, als die Tür aufflog und plötzlich jemand mit einer schallgedämpften Pistole aus der Galerie gerannt kam.
Der arme Junge liegt wie ein kleines Häufchen auf der nassen Straße. Rostbraunes Regenwasser perlt auf seinem Mantel ab. Ich knie mich neben ihn und reiße die Kleider über seiner Brust auf. Untersuche ihn. Finde ein Loch, oben auf der linken Seite, aus dem dunkelrotes Blut pumpt. An seinem Gürtel hängt ein Funkgerät. Ich drücke den Sprechknopf, klemme es unter seinen Körper, sodass der Sender an bleibt, und suche dabei mit den Augen die Straße ab. Alles ruhig. Irgendwo knattert ein Auto vorbei. Plötzlich flitzt ein Schatten durch die Bäume im Park, ich springe auf und stürze hinterher.
Ich jage ihn bis zum Luzhnetski Prospekt, bin ihm dicht auf den Fersen, als er plötzlich in und über die Büsche an der hohen Mauer zwischen Straße und Klosterfriedhof hechtet. Ich folge ihm. Springe gegen die Wand, schneide mir die Hand an einer der Scherben in der Mauerkante auf und lande auf der anderen Seite, wo ich mir das rechte Knie verdrehe. Im Unterholz liegend horche ich auf Geräusche, während ich versuche, mein wild pochendes Herz zu beruhigen und mit meinem Mantel den Blutfluss zu stillen.
Das Gebüsch raschelt, rußiger Moskauer Regen tropft auf mich herab. In der Ferne bläst ein Zug ein einsames Lied. Hinter Bergen von Blumen auf dem Grab von Raissa Gorbatschowa schramme ich an der Wand entlang. Außer dem nieselnden Regen und dem Zirpen der Grillen ist nichts zu hören. Skulpturen berühmter Persönlichkeiten ragen überlebensgroß empor. Zwischen den wiegenden Schatten der Eichen und Birken locken mich die Ikonen der Toten näher und tiefer in Russlands Vergangenheit - Wissenschaft, Medizin, Krieg, überragt von Kunst und Politik, die hier in sarkophager Pracht vertreten sind. Tschechow liegt nur einen Wurmstich von einem Diplomaten entfernt, eine symbolische Verflechtung von Kunst und Politik, im Tod wie im Leben. Die Maden, das modernde Fleisch und die verblichene Schönheit in den Särgen machen mir nichts aus, nicht nach dem Grauen in Tschetschenien. Die Grabmäler - figürliche Kunst, die das Leben romantisiert, das böse wie das gute - sind weitaus beunruhigender.
Ein Zweig knackt, laut wie ein Gewehrschuss. Darauf folgen schnelle Schritte und schnaubendes Atmen. Vielleicht ist es eine Falle, aber ich kann nicht länger warten, also renne ich hinterher. Vorbei an dem doppelgesichtigen Diplomaten, dem Chirurgen, der den pochenden rubinroten Herzstein in den Händen hält, immer weiter, vorbei an der großen Ballerina, eingefroren in ihrer endlosen Pirouette, der Miniaturrakete und dem Panzer, und endlich, da vorn, sehe ich jemanden laufen, mit fliehendem Mantelschoß. Als die Bäume um uns lichter werden, erkenne ich ihn deutlicher. Er dreht sich um, das Mondlicht schimmert auf seiner runden Brille, aber er sieht nicht in meine Richtung. Stattdessen packt ihn eine unsichtbare Hand und schleudert ihn ins Gras unter Eisensteins grübelndem Grabmal. Ich bleibe abrupt stehen und kauere mich hinter einen struppigen Busch.
Henri Orlan ist über zehn Schritte weit geflogen, aber ich sehe, dass er noch lebt. Seine rechte Hand zittert und er wimmert leise. Doch dann steigen über der Brust zwei dampfende Wolken aus seinem nassen Mantel auf, und er zuckt und sackt in sich zusammen.
Ich lege mich flach auf den Boden, robbe seitwärts nach links und weiß, was als Nächstes passieren wird. Blätter und abgebrochene Zweige prasseln auf mich runter, als der Killer mit einem schallgedämpften Schuss nach dem anderen systematisch das Gelände durchsiebt. Blind zurückzufeuern wäre reine Zeitverschwendung, also kauere
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