Russisches Abendmahl
wild, sprunghaft, geweitet. Sie hat Entzugserscheinungen.
Ich ziehe mein Hemd aus und wickle sie darin ein. Ziehe den Mantel wieder an, klemme sie unter den Arm wie einen Fußball und mache mich auf den Weg in Richtung Komsomolskaja. Der weiche Regen fühlt sich plötzlich sauberer an. Die schaukelnde Bahn und die Wärme meines Körpers beruhigen sie. Als ich ihre weichen Wangen streichle, kommt es mir vor, als wären alle Augen im Abteil auf mich gerichtet. Aber ich weiß, dass es im Grunde niemanden interessiert, wenn der Wolf sich ein Lamm reißt. Jedenfalls nicht, solange es nicht ihr Lamm ist. Ich wünschte, ich könnte ein Schlaflied singen. Ein paar Sätze kenne ich aus Fernsehshows, aber im Augenblick fällt mir kein einziger ein, also begnüge ich mich mit einem tiefen tonlosen Brummen und betrachte die kleinen Hände, wie sie sie rhythmisch öffnet und wieder zusammenpresst und dabei langsam einschläft.
Ich klopfe leise und Mascha kommt an die Tür. Sie hält das Baby, während ich den Tee trinke, den sie schon vorher aufgesetzt hat, und ihr erkläre, was ich von ihr will. Es ist eigentlich zu viel verlangt, aber ich tue es trotzdem. »Kannst du ein Zuhause für sie finden?« Es kommt mir vor, als würde ich über eine streunende Katze reden.
»Ja«, sagt Mascha. Der Kontrast zwischen ihrem pergamentartigen Fleisch und der strahlend weichen Baby-haut ist irritierend, als würde mehr als nur Generationen zwischen ihnen stehen. »Ich kenne eine Frau, die letzte Woche ihren Mann und ihren Sohn bei einem Brand verloren hat. Das Kind wird ihren Platz einnehmen.«
Irgendwo in Tschetschenien habe ich die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden, so wie auch jedes andere tiefe Gefühl - außer Hass. Ich gehe als schlechter Mensch durchs Leben, schleife mich mit einer grausamen Einförmigkeit durch gute wie durch schlechte Zeiten, angeekelt vom Untergang meines Landes, gelegentlich jedoch überwältigt vom Durchhaltevermögen seiner Menschen. Und trage zu beidem bei, allerdings hauptsächlich zu Ersterem.
Aber heute empfinde ich Liebe in all ihrer überwältigenden Kraft. Ich presse mein Gesicht gegen die Glasscheibe im Terminal Scheremetjewo-2 und sehe die strahlend blasse Valja, der aus dem Bus vom Aeroflot Flug 712 geholfen wird, ein Abglanz ihres früheren stählernen Ichs, aber heilende Nahrung für meine sehnsüchtigen Augen. Ich rase durch die gekachelten Flure, warte Minuten voller Herzklopfen, bis sie durch die Passkontrolle ist, am schlimmsten sind die letzten Sekunden, als ich sie auf Krücken durch die Sicherheitsschranke kommen sehe. Ihr linkes Bein ist doppelt und dreifach bandagiert. Es sieht aus, als wäre es eingeklappt und nach hinten gebunden, aber das ist nur eine trügerische Hoffnung. Sie lehnt steif auf ihren Krücken, als ich sie in meine zitternden Arme schließe. Ihr Körper verschmilzt nicht mit meinem, so wie sonst immer.
Wir bahnen uns langsam unseren Weg aus dem Terminal. Ich helfe ihr in Vadims Van und fahre los.
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Was gibt es da zu erzählen?« Sie verfolgt den Verkehr durch das Fenster mit ihren kohlschwarz umrandeten Augen. Ihr Haar hat seine natürliche weiße Farbe. Sie sieht aus wie ein Geist. »Ich war an ein Bett in einem Krankenhauszimmer geschnürt. Hilflos. Amputiert. Sie haben mir vorher gesagt, was sie mit mir vorhatten. Das hat es noch schlimmer gemacht. Das und dass ich nicht wusste, ob ich meinen Fuß irgendwann wieder bekommen würde.« Ihre Lippen sind trocken. Aufgebrochene wächserne Linien, die verschwinden, wenn sie mit der Zunge darüber fährt. »Zuerst habe ich Hass empfunden. Für jeden. Für Peter. Die Ärzte. Den schleimigen Strahow. Dich.«
Obwohl ich geahnt habe, dass mein Name auf der Liste sein würde, tut es mir in der Seele weh, ihn zu hören. Unsere Blicke haben sich noch nicht getroffen. Wir verlassen den Flughafenbereich und tauchen in den Verkehr auf der M10 ein. Ich nehme gelegentlich die Augen von der Fahrbahn und sehe in ihre Richtung, aber sie starrt weiter gedankenverloren aus dem Fenster.
»Ich kann dich nicht trösten, Valja. Ich kenne das Gefühl von Verlust, und ich weiß, dass Worte es nicht besser machen.«
Sie nickt und kneift die Augen zusammen. »Ich habe zugesehen, als sie den Verband gewechselt haben. Es sieht sehr hässlich aus.«
»Sieht mein Bein hässlich aus?«
Sie blinzelt mehrmals und nickt dann energisch. »Ja«, sagt sie schniefend. Ihre Mundwinkel gehen nach oben und
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