Russisches Abendmahl
Hinter mir erstreckt sich der Sokolniki-Park wie eine wunderschöne grüne Decke. Auf der Straße herrscht Betrieb. Kein Gedränge, aber immerhin geschäftiges Treiben. Der betonierte Weg führt zum Sokolnicheski-Wall, von dem aus man den Park überblicken kann.
Ich bleibe stehen, stütze meine Ellbogen auf eine Balustrade aus Beton und tue so, als schaue ich eine Zeit lang auf das farbenprächtige Blattwerk, bevor ich mich umdrehe und mich gegen die Mauer lehne. Apartmenthäuser, Geschäfte und Restaurants säumen die andere Straßenseite. Mehrere Fenster in den Wohnungen mit Blick auf den Park sind verrammelt. Ein gutes Plätzchen, um auf ein unbewegtes Ziel zu schießen. Ich könnte mit einem Akku-Bohrer ein Loch bohren, abdrücken und mich in aller Ruhe aus dem Staub machen. Aber Dudajew wird nicht still stehen, also muss ich das Gewehr bewegen können.
Die untergehende Sonne spiegelt sich auf seltsame Weise in der Scheibe einer der Wohnungen. Ich gehe näher heran, um besser sehen zu können. Einige der Fenster sind zerschlagen und noch nicht zugestellt. Ich konzentriere mich auf eines, das einen weiten Blick über den Wall und den Park zulässt. Vier Stockwerke hoch. Etwas mehr als hundert Meter von der Mitte des Walls entfernt. Klare Sicht.
Nachdem ich mir sämtliche Details eingeprägt habe, setze ich mich auf eine Bank. Es ist fast sechs Uhr. Ein leichter Dunst erhellt den spätnachmittäglichen Himmel und lässt die Kodachrome-Farben deutlicher hervortreten. Werktätige hasten vorbei. Eine Familie japanischer Touristen schießt Fotos, die Mutter marschiert vor den gackernden Kindern her in den Park, sie erinnern mich an die Metallenten im Schatten des Neujungfrauenklosters.
Dudajew läuft an mir vorbei, gleichmäßig und locker, in Nike-Joggingschuhen, blauem Trägerhemd und gelben Shorts, und in einem Tempo, das in Widerspruch zu seinem Bauchumfang steht. Sein kahler Kopf bewegt sich kaum.
Im Keller des Cafés ist es ruhig, obwohl es noch vor Mitternacht ist. Die gedämpften Geräusche der Gäste über mir scheinen weit entfernt, als kämen sie aus einer anderen Welt. Vadims Stift kratzt über das Papier, während ich ihm das Equipment nenne, mit dem ich Dudajew erschießen will.
»Mk 11. Zwanzig Zoll-Lauf, handgefertigter Schaft, mattschwarz.« Mit kurzem Lauf und Schaft wiegt das Gewehr weniger und lässt sich leichter und schneller bedienen. Geladen, mit Zielfernrohr und Zweibein hat es ein Gewicht von etwas über zehn Kilo. Schwarz ist gut für die Stadt, die matte Oberfläche absorbiert das Licht wie ausgelaufene Tinte.
»Optik?« fragt Vadim, ohne von seinen Notizen aufzusehen.
»Leupold Vari-VX-III, 3,5-10 × 40 Millimeter, Weitschussvisier M-1 mit Paralaxausgleich.«
»Entfernung?«
»Etwas über hundert Meter.«
Er zieht seine buschigen Augenbrauen hoch, seine Art zu sagen, dass ihm das Fernrohr zu stark für eine so kurze Entfernung zu sein scheint. Stattdessen fragt er:
»Wie schnell?«
Ein Jahr? Zehn Jahre? Nie? Ich schüttle den Kopf, um die abstrusen Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben. Valja kann sich den Luxus erlauben, ich nicht. Ich stehe auf um zu gehen. »Morgen Abend will ich sie testen.«
Übermorgen ist der Tag, an dem ich schießen werde.
38
Die nächsten beiden Tage hört man überall die Nachrichten über den öffentlichen Mord an Jakowenko auf dem belebten Nowy Arbat und seine Beerdigungszeremonie auf dem Moskauer Wagankowo-Friedhof. Die parlamentarischen Kollegen loben ihn als einen ehrlichen Mann voller Ideale. Ich weiß nicht, wie aufrichtig diese Bekundungen tatsächlich gemeint sind, aber der Gedanke, dass seine Motive, die Gemälde zu stehlen, nicht weniger nobel waren als die des Generals, lässt mich nicht unbeeindruckt. Der Vorsitzende von Jakowenkos Partei hat die Zustände in Russland am besten zusammengefasst, denke ich, als ich die neuesten Meldungen der ITAR-Tass lese. »Wir leben in einem Land, in dem Übeltaten ungestraft bleiben«, sagt er. Als ich das Blatt weglege und mich auf den Weg mache, um Dudajew zu töten, hält mir eine bohrende Stimme in meinem Kopf die traurige Wahrheit dieser Worte vor Augen.
Auf dem Sokolnicheski-Wall ist alles so wie vor zwei Tagen. Diesiges Licht und gute Winkel, die eine klare Sicht zwischen gleichmäßig verteilte Fußgänger hindurch bieten. Ich trage denselben unförmigen grauen Mantel, in dem ich Jakowenko getötet habe. Das Mk 11 Gewehr hängt unter dem Mantel über meiner Schulter. Ein Rucksack
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