Russisches Abendmahl
neununddreißig Zoll …
Meine Uhr piept. Es ist 17 Uhr 55. Mein Atem geht gleichmäßig und ruhig. Ich schließe die Augen. Konzentriere mich darauf, wie das Blut durch meine Adern fließt, auf meinen Herzschlag. Festige meine Position.
Das Funkgerät klickt. »Er kommt«, sagt Vadim mit verzerrter Stimme.
Mit sicherer Hand visiere ich das östliche Ende des Walls an. Dudajew biegt um die Ecke und springt ins Fadenkreuz. Ich kann die dünnen Haare auf seinem Ohr sehen.
Ich fühle mich eins mit ihm. Die Nikes klatschen auf das Pflaster, leichter Schweiß bricht aus, Muskeln werden warm, grünes Blattwerk wischt vorbei. Er fühlt sich gut, ausgeglichen, ist allein, kann denken, ohne unterbrochen zu werden - an Politik, Business oder die Frau, die hoffentlich später am Abend an seiner Seite liegt.
Der Lauf folgt ihm. Die Sichtlinie ist optimal. Der Körper eins mit dem Gewehr. Kurze Atempause. Ein leichter Druck auf den Abzug. Zum ersten Mal seit drei Monaten denke ich nicht an die Leda . Dudajews Kopf versprüht einen roten Schleier wie lautloses Feuerwerk gegen das Grün des farbenprächtigen Parks.
Er fällt.
Ich schiebe eine neue Patrone in die Kammer, den Blick weiter durch das Zielrohr gerichtet.
Lange Sekunden vergehen, bis die Menschen in seiner Nähe reagieren. Sie werden langsamer, wirken verunsichert. Er liegt mit dem Gesicht nach oben, den Kopf im aussickernden Blut. Eine Frau rollt ihn in Seitenlage. Als das Innere des aufgeplatzten Schädels auf den Beton quillt, schreit sie so laut, dass ich es bis hier oben hören kann.
Ein zweiter Schuss ist unnötig. Dudajew ist tot.
Ich hebe die Patronenhülse auf. Gehe vom Fenster weg. Packe meine Ausrüstung ein, die olivbraune Decke zuletzt. Hänge mir das Gewehr um, ziehe den Mantel an, rücke den Rucksack zurecht und stapfe die Treppe hinunter. Der U-Boot-Mann ist noch da, wo ich ihn hingesetzt habe. Ich sehe in seiner Jackentasche nach. Das Geld ist weg.
Ein kratziges Geräusch in der Nähe des Fahrstuhls lässt mich aufschrecken. Ich drehe mich um und greife hastig nach der Sig, die tief in meiner Manteltasche steckt.
Bevor ich sie ziehen kann, tritt ein kleines Mädchen aus dem Schatten in der Ecke. Sie ist gerade mal sechs oder sieben. Ein auffälliger lila-türkiser Fleck auf ihrer Wange verunstaltet ihre weiche Haut. Sie starrt mich ernst aus untertassengroßen, karamellfarbenen Augen an. Ich gehe einen Schritt zurück, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Schon wieder stehe ich vollkommen neben mir, wie ein totaler Amateur.
»Was machen Sie mit meinem Onkel?«, fragt sie fast flüsternd.
»Ich helfe ihm.«
»Warum?«
Gute Frage. »Weil er für unser Vaterland gekämpft hat.«
Sie presst die Lippen zusammen, während sie darüber nachdenkt. »Er hat schlimme Narben auf dem Rücken«, sagt sie kurz darauf. »Hat er die vom Kämpfen?«
Ohne die Narben gesehen zu haben, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich vermute, dass seine Vorgesetzten ihren Onkel ausgepeitscht haben. Vielleicht hatten sie einen Grund - womöglich war er ein Deserteur oder ein Feigling. Vielleicht auch nicht.
»Ja«, antworte ich.
Sie nickt ernst. So stehen wir da, während die Sekunden vorbeiticken und die Gefahr, dass man mich sieht, immer größer wird.
»Hast du das Geld aus der Tasche genommen?«
Sie sieht auf ihre abgewetzten Schuhe runter, ohne zu antworten.
»Warum?«
»Meine Mama braucht das Geld.«
»Dein Onkel auch.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nur für Wodka.«
Hier stehe ich nun und lasse mir von einem Kind die Welt erklären. Meine erbärmlichen Versuche, verlorenen Soldaten zu helfen, sind umsonst - wahrscheinlich schade ich ihnen sogar eher damit. Ich muss gehen. Die Polizei wird bald die Gegend absperren. Sie werden die Wohnung durchsuchen noch bevor die Experten den Schuss zurückverfolgt haben.
»Was wird deine Mama von dem Geld kaufen?«
»Essen. Und einen neuen Zahn.«
»Einen Zahn?«
Sie nickt.
»Wie heißt du?«
»Ella.«
»Dann ist das Geld für dich und deine Mama, Ella. Tschüs, mach’s gut, Kleine.«
Selbst mit einem kaputten Vorderzahn erhellt ihr Lächeln ihr Gesicht so sehr, dass der blaue Fleck, den sie vermutlich ihrem bewusstlosen Onkel verdankt, fast nicht mehr zu sehen ist.
»Tschüs«, sagt sie und rennt die Treppe hoch.
39
Der Nachtzug von Moskau nach St. Petersburg braucht siebeneinhalb Stunden. Die meisten Menschen schlafen im Zug, und ein Teil von mir würde das am liebsten auch. Ich habe schlecht
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