Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Ghelfi
Vom Netzwerk:
verleiht ihm eine unkenntliche, rundliche Form. Ich lasse mir Zeit, halte Ausschau nach irgendwelchen auffälligen Aktivitäten, kann nichts entdecken, und überquere den Wall in Richtung der nördlich liegenden Gebäude.
    Das Haus mit den kaputten Fenstern stammt aus der Chruschtschow-Ära. Ein kurzer Blick zurück bestätigt mir, dass sich niemand für mich zu interessieren scheint. Ein auf dem Boden ausgestrecktes Gerippe von einem Mann in dreckigen Lumpen, der nach erbrochenem Wodka stinkt, blockiert den Weg zum Fahrstuhl. Speichel fließt aus seinem Mund in den ungepflegten weißen Bart. Das Marineblau seines ausgeblichenen, fleckigen Jacketts lässt mich innehalten.
    Ich beuge mich runter, verfluche insgeheim meine Schwäche, rolle ihn zur Seite und ziehe den dreckverkrusteten Ärmel seines Jacketts gerade, bis ein U-Boot-Abzeichen sichtbar wird. Darunter ist der Name Kursk eingestickt. Die hundertachtzehn Mann der Kursk sind alle tot, und der hier ist außerdem zu alt, um auf ihr gedient zu haben. In der Annahme, dass die Jacke einem Sohn oder Neffen gehört hat, stopfe ich ihm zehn Hundertrubelscheine in die Uniform. Lehne ihn etwas bequemer gegen die Wand, wo er niemandem im Weg liegt. Drücke auf den Fahrstuhlknopf und warte. Nichts passiert, natürlich.
    Ich steige vier Treppen hinauf bis zu einem engen grünen Flur. Gehe nach links bis zur sechsten Tür und presse mein Ohr dagegen, für den Fall, dass ich mich verzählt habe.
    Als ich nichts höre, hole ich ein Handvoll kleiner Schlüssel aus einem Beutel an meiner Hüfte. Der zweite passt, und schon bin ich drinnen und verschließe leise die Tür hinter mir. Die Wohnung ist leer, waagerechte Strahlen von Staubkörnern tanzen in der Spätnachmittagssonne. Ich lege meine Ausrüstung auf den abblätternden Linoleumboden. Öffne den Rucksack neben dem kaputten Fenster und hole eine Plane in den Tarnfarben Schwarz, Braun und Olivgrün heraus. Mit einem Stück Stoff dämpfe ich das Geräusch des Miniaturhammers ab, nagle die Plane über dem Fenster an die Decke und breite sie so aus, dass mein Umriss mit ihr verschmilzt und keine Silhouette abgibt. Als nächstes überprüfe ich die Fensterscheibe und breche leise ein paar Stücke heraus, um den Lauf frei bewegen zu können. Dann werfe ich einen Blick nach draußen. Der Wall liegt ausgebreitet vor mir. Die Fensterbank ist weniger als einen Meter hoch, perfekt für einen Schuss im Knien. Der Ort ist gut gewählt.
    Ich hocke mich hinter die Fensterbank und konzentriere mich voll und ganz auf den Augenblick. Meine kurze Entgleisung mit dem U-Boot-Mann ist vergessen. Ich teile die Zonen ein.
    Entfernung. Ablenkung. Winkel.
    Ich hole einen Bushnell Entfernungsmesser aus meinem Rucksack. Justiere auf ein Zeichen in der Balustrade, gegen die ich vor zwei Tagen lehnte. Messe die Entfernung - 112,2 Meter. Ziele auf die Bank, die näher zur Mitte des Walls liegt. 97,4 Meter. Ich bin ziemlich sicher, dass Dudajew zwischen diesen beiden Punkten hindurch joggen wird.
    Ich lege den Entfernungsmesser beiseite, schalte ein handflächengroßes Funkgerät ein, mit einer Reichweite von ein paar Kilometern, kontrolliere die Lautstärke, stelle es auf den Boden unter der Fensterbank und inspiziere Stück für Stück das Gewehr. Als ich mich davon überzeugt habe, dass es nicht unter dem Transport gelitten hat, schraube ich den Schalldämpfer auf. Lade das Magazin mit zehn 7,62 Millimeter Patronen und schiebe eine davon in die Kammer. Wende mich wieder dem Fenster zu. Setze den leeren Rucksack auf die Fensterbank, um mit dem Zweibein darüber rutschen zu können, wenn ich den Lauf bewege. Knie mich in Position, angespannt bis in jede Faser. Lasse meine Welt zusammenschrumpfen auf das Fadenkreuz in der Mitte des tödlichen Zielfernrohrs.
    Ich stelle den genauen Mittelpunkt zwischen Mauer und Bank ein. Hebe das Zielrohr an und studiere die Bewegung der Blätter, visiere den Horizont und inspiziere die tänzelnden Wellen der Luftspiegelung. All dem entnehme ich, dass der Wind aus Ost mit etwa fünf Stundenkilometern weht, ohne Böen.
    Mit Hilfe der Optik kalkuliere ich die Winkeleinheiten in Zoll, Fuß und Yard. Die Millizoll-Markierungen erleichtern die Berechnungen - ein paar Klicks und die Einstellung ist fertig. Unauslöschlich eingeprägte Daten tauchen in meinem Kopf auf. Die durchschnittliche Entfernung vom Kopf bis zur Hüfte beträgt dreißig Zoll, so hoch wie der Turm eines russischen Panzers. Schädeldecke bis Leiste,

Weitere Kostenlose Bücher