Russisches Abendmahl
Zaren hergestellt wurden.
Verdammt! Was habe ich nur getan? Wie konnte ich sie gehen lassen?
Ich sacke zusammen, direkt auf der belebten Morskaja Straße, das Gesicht in den Händen vergraben, wie ein Häufchen Elend. Ein Stimme von weit weg sagt: »Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?« Und es kostet mich all meine Kraft, mich aufzurichten, weiterzulaufen, ohne zu antworten, weil ich die Antwort nicht ertrage.
Ja, ich brauche Hilfe .
Was ich mit ihr hatte, war absolut einzigartig, und ich glaube nicht, dass ich so etwas noch einmal erleben werde. Das Einzige, was ich tun kann, um über diesen unvorstellbaren Verlust hinwegzukommen, ist, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren.
Und das tue ich. Ich überquere die funkelnde Newa, ohne einen Blick auf die Eremitage oder die Turmspitze der Peter-und-Paul-Festung zu werfen, und schlängle mich durch Busladungen von Touristen zur Universitätsbibliothek. Dort durchblättere ich die archivierten Zeitungen und beginne mit Ende Mai, mit dem Tag, an dem Lipman und Arkadij auf dem Kanal davongetuckert waren.
Ich finde, was ich suche, versteckt auf der letzten Seite in einer Nachricht vom 10. Juni. Felix Kuwaldin, Hausmeister der Isaakskathedrale, stürzte über das Außengeländer der Kuppel in den Tod. Erste Anzeichen sprachen für einen tragischen Unfall, obwohl ein Selbstmord nicht ausgeschlossen wurde. In einer Folgemeldung zwei Tage später hieß es, der kürzliche Tod seiner Mutter habe ihm zugesetzt. Ein Bild zeigt einen Mann mit vernarbter, schlaffer Haut, die seine linke Gesichtshälfte nach unten zieht, als wäre sie erst verflüssigt und dann eingefroren worden.
Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Beim Anblick von Kuwaldins kaputtem Gesicht und den Erinnerungen, die es ausgelöst hat, wird mir plötzlich kalt. An meinem Bein machen sich Phantomschmerzen bemerkbar. Die Zeitungen und schmuddeligen Wände der Bibliothek verschwimmen zu einem weißen Nebel, durchbrochen von den blattlosen Ästen der Bäume in den Wäldern von Inguschetien.
Nachdem ich zwei Kilometer weit von tschetschenischen Rebellen verfolgt worden war, hatte ich eine höher gelegene Position eingenommen, ein Jahrzehnte altes Mosin Nagant 7,62 Kaliber Scharfschützengewehr an meiner Seite und genug Munition, um länger zu kämpfen, als es dauern würde, bis ich erfroren wäre. Außerdem hatte ich drei von ihnen erledigt, eventuell sogar noch zwei weitere - die Rebellen hatten sie weggezogen, bevor ich das Zielfernrohr noch einmal auf sie richten konnte, um mich davon zu überzeugen, ob sie wirklich tot waren. Ich schätzte, dass sich mindestens zwanzig, wenn nicht an die fünfzig Rebellen in den Tälern und Senken um meine notdürftige Schanze auf einer bewaldeten Anhöhe versteckten. Sollte meine Zeit gekommen sein, würde ich sie so lange hinauszögern, wie ich konnte, so wie ein Verhungernder, der sein letztes Stück Brot auskostet.
Der Wind heulte ein trauriges Lied. Ein Falke kreiste am sich verdunkelnden Himmel, es wurde Abend und Zeit zu jagen. Ich biss das Ende eines Dörrfleischriegels ab. Er war eisenhart, und ich würde lange Zeit daran zu kauen haben. Was gut war, denn wenn ich kaute, klapperten meine Zähne nicht.
Ein Schrei erhob sich über den verkrusteten Schnee. Es klang unmenschlich, wie ein verwundetes Tier. Ich durchsuchte den Wald mit meinem Fernrohr, konnte aber nichts Ungewöhnliches sehen. Erneut gellte der Schrei durch die Luft, bohrte sich durch Mark und Bein. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Ich fragte mich, ob es Korporal Kuwaldin oder Leutnant Passki waren, die gefoltert wurden. Beide waren vor weniger als zwei Stunden gefangen genommen worden, als ihr Lastwagen auf eine Panzerabwehrrakete traf, kurz bevor man mich in den Bergen entdeckt und bis hierher verfolgt hatte. Ich fühlte mich noch schlechter, weil ich wusste, dass man sie an diesen schrecklichen Ort geschickt hatte, um nach mir zu suchen. Welch sinnlose Verschwendung .
»Volkowoj!« Der Ruf kam aus den Wäldern unter mir.
»Komm jetzt raus, oder deine Freunde müssen leiden!«
Noch ein Schrei, diesmal noch schriller.
Am Rande des Sichtkreises meines Fernrohrs bewegte sich etwas. Hinter einem zweihundert Meter weit entfernten Baumstamm guckte die rissige Spitze eines Lederstiefels hervor. Anstelle von Socken stießen dreckige Stoffwickel durch ein Loch in der Stiefelspitze. Ich stellte das Fernrohr ein, zielte, drückte ab und sah die Stiefelkappe in die Luft
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