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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Ghelfi
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fliegen. Als die Schreie des Mannes sich mit denen meiner gefolterten Gefährten verbanden, wurde mir wärmer.
    Plötzlich erschien, wie aus dem Nichts, eine Gestalt. Korporal Kuwaldin kam mit kurzen ruckartigen Schritten in meine Richtung gelaufen. An seinem linken Knöchel hing eine Kette, die wie eine Schlange hinter ihm herkroch, bevor sie auf den flachen Grund eines Flussbettes abfiel. Sein faltenloses, jugendliches Gesicht war blass, die runden Augen honigfarben und die Lippen blutleer. Als er das Ende seiner eisernen Leine erreicht hatte, blieb er abrupt stehen.
    »Pass auf, Volkowoj!«, rief dieselbe Stimme.
    Und dann stieg die Feuerzunge eines Flammenwerfers vom Boden auf und kroch ihm an Beinen und Rücken hoch, bevor sie sich hungrig schlürfend um seinen ganzen Körper wickelte. Er schrie und versuchte wegzurennen, wurde aber von jemandem am anderen Ende der Kette zu Boden gerissen. In einem scheinbar endlosen Jaulen krallte er sich in Schnee und Dreck, bevor die Flammen erloschen. Durch das Fernrohr sah ich, dass der Rücken seiner Uniform an manchen Stellen offen war und den Blick auf verbranntes Fleisch frei gab, und dass das Nylongewebe mit der Haut verschmolzen war. Er lag mit dem Gesicht im Schnee, der zum Glück den Anblick seiner Verletzungen verbarg.
    Dann erschien ein anderer Mann und hinkte bis ans Ende einer ähnlichen Kette. Leutnant Passki stand erhobenen Hauptes da, aber seine Kehle war zugeschnürt und seine weit aufgerissenen Augen voller Furcht.
    »Wirf die Waffe weg, Volkowoj!« befahl der Rebellenführer erneut von seinem versteckten Posten. »Komm mit erhobenen Händen raus!«
     
    Das Krachen eines schweren Buches auf den Tisch neben mir holt mich aus meinem Albtraum. Ich schüttle den Kopf, versuche, die Erinnerungen loszuwerden, aber noch jetzt frage ich mich, warum ich damals so gehandelt habe. Vielleicht hätte ich die Soldaten sterben lassen, wenn sie nicht auf der Suche nach mir gefangen genommen worden wären. Vielleicht war ich auch selbst bereit zu sterben. Jedenfalls warf ich das Gewehr weg, hob die Hände hinter den Kopf und lief meinen tschetschenischen Feinden in die Arme.
    Ich lege die Zeitung mit Kuwaldins Bild beiseite und begebe mich zum nächsten Münztelefon. Im St. Petersburger Telefonbuch steht die Nummer eines Mikhail Passki. Erst nach häufigem Klingeln geht er dran.
    »Ja?« Seine Stimme zittert. Ich frage mich, wovor er Angst hat.
    »Hier ist Volkowoj«, sage ich.
    Es folgt langes Schweigen. Ich höre ihn atmen. »Was wollen Sie?«
    »Ich will über Kuwaldin reden.«
    »Arbeiten Sie für Maxim Abdullajew?«, fragt er.
    »Wir treffen uns in einer Stunde im Astoria«, sage ich.
    Er antwortet nicht.
    »Sie sind mir einen Gefallen schuldig, Leutnant.«
    »Ich werde da sein«, sagt er schließlich. »Natürlich werde ich da sein. Aber es wird Ihnen nicht gefallen, was ich zu sagen habe.«

41
    Ich laufe über die Schlossbrücke zurück. Die riesige Kuppel der Isaakskathedrale beherrscht den Blick in Richtung Süden und wirft goldene Strahlen in den kobaltblauen Himmel. Ich gehe an der Admiralität vorbei, die groß und prachtvoll ist, im Gegensatz zur russischen Marine, die keins von beiden ist, jedenfalls nicht mehr. Ich stapfe durch das Gras auf dem Isaaksplatz und betrachte die Kuppel. Nutzloses Schuljungenwissen schwirrt mir durch den Kopf. Wegen Unfähigkeit und dem Aberglauben, die Romanow-Dynastie könne mit Fertigstellung der Kathedrale gestürzt werden, erstreckten sich die Arbeiten an dem gewaltigen Gebäude über einen Zeitraum von vierzig Jahren. Die Romanows wurden gestürzt, rund sechzig Jahre später. Für russisches Zeitgefühl schnell genug. Trotzdem reitet Nikolaus I. sein Ross in ewigem Ruhm hoch auf dem Sockel in der Mitte des Platzes.
    Das Astoria-Hotel liegt schräg gegenüber der Kathedrale. Die Lobby erstrahlt im Glanz der Alten Welt, aber all ihre Pracht berührt mich nicht. Ich finde eine ruhige Ecke abseits der Lobby und bestelle Tee, trinke langsam und kaue noch einmal alles im Kopf durch, während ich auf den Leutnant warte.
    Etwas später trinke ich immer noch Tee, empfinde aber inzwischen kein Mitleid mehr für den verängstigten Leutnant. Er hat mir seine Geschichte erzählt, von Lipmans und Arkadijs hastiger Übergabe der gestohlenen Kunstwerke am Ufer des Fontanka-Kanals, in der Nacht, als Valja und ich zitternd auf dem ehemaligen Anleger unter der Eremitage saßen. Am nächsten Abend gab er die Bilder seinem Kriegskameraden

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