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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Ghelfi
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Zaun hineingewachsen sind, und gibt den Blick frei auf ein flatterndes gelbes Band unter einem niedrigen, schrägen Teerpappendach - ein seltsamer Bruch in der rissigen Kathedralenmauer. Ich zwänge mich durch das Gebüsch an den Zaun, um mir das näher anzusehen. Auf der anderen Seite der Hecke hängt eine knorrige Holztür halb offen in Eisenscharnieren. Ein Streifen Absperrband baumelt im Wind.
    Ich sehe mich kurz um. Niemand scheint mich zu beachten. Ich klettere über den Zaun und lande auf einer Rasenfläche, eingefasst von gut gepflegten, windzerzausten Veilchen. Alles scheint plötzlich ruhiger, als hätte ich einen Ort betreten, an dem die Welt mehrere Dezibel leiser ist als ihr übliches Gejaule. Tauben gurren. Ein Spaten steckt in trockener umgegrabener Erde. Das Beschleunigen der Busse auf den umliegenden Straßen klingt weniger aggressiv.
    Ich nähere mich der Tür und spähe durch den Spalt in die Dunkelheit. Eine Holztreppe führt in einen Raum von nicht mehr als zwanzig Quadratmetern. Drinnen stehen ein ordentlich gemachtes Feldbett, an dessen hinterem Ende eine offene Truhe, in der Ecke eine Waschschüssel aus Ton neben einem braunblättrigen Farn, und ein Schrank. Ein orthodoxes Kreuz hängt an der Wand über dem Bett und wacht über alles. Gegenüber befindet sich eine weitere Holztür. Ähnlich wie die, an der ich lehne, aber nicht so verwittert, außerdem fest verschlossen. Offenbar führt sie ins Innere der Kathedrale. Der kleine Raum sieht aus wie die Unterkunft eines Hausmeisters.
    Ich gehe hinein. Das erste, was mir auffällt, ist der vertraute Geruch von geröstetem Chicorée und teuren Zigarren, im selben Moment nehme ich im Augenwinkel eine plötzliche Bewegung wahr. Ich drehe mich zur Seite, gehe in die Hocke und setze zum Schlag an - zu spät. Mein Schädel explodiert weißglühend. Der Raum schwankt, während ich kraftlos auf unsichtbare Feinde einschlage und in einem zähen Nebel schwimme. Ich knalle mit den Knien auf den harten Stein. Die Wände drehen sich, Regenbogenfarben blinken im Kreis, und ich höre eine weiche Stimme sagen: »Macht ihn fertig.« Dann wird alles schwarz.

42
    Nach und nach komme ich zu mir, ich fühle mich, als läge ich in Öl. Bewegungsunfähig, die Augen verklebt, der Mund verstopft - nein, geknebelt. Ich kämpfe mit aller Macht, um mich von den Fesseln zu befreien, keuche, würge, versuche, die Augen zu öffnen, vergebens.
    »Er ist wach«, sagt eine vage vertraute Stimme.
    »Sieh zu, dass er sprechen kann«, sagt eine andere Stimme, die wie weicher Mokka klingt, eine Stimme, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt hat. Peter.
    »Ich bezweifle, dass er dazu in der Lage ist«, sagt die erste Stimme, die ich jetzt als die des Mannes mit dem großen Kopf identifiziere. Strahow , ich erinnere mich. Strahow war der Name meines tschechischen Kidnappers.
    »Der ist aus hartem Holz geschnitzt«, sagt Peter.
    Er hat recht. Ich habe in meinem Leben so viele Schläge auf den Kopf bekommen, dass ich inzwischen einiges aushalten kann. Grobe Hände machen sich an meinem Kopf zu schaffen, entfernen die Augenbinde und reißen den Knebel raus. Die Fesseln an meinen Händen und Füßen bleiben dran.
    Ich tue absichtlich benommen, rekle die Zunge und stöhne. Öffne die Augen zu kleinen Schlitzen, was ein Fehler ist, weil ich dank der Aluminiumstrahlen, die sich wie Nadeln in meine Netzhaut bohren, jetzt nicht mehr so tun muss, als hätte ich Schmerzen. Ich schiele durch das stechende Licht und versuche, so viel aufzunehmen, wie ich kann.
    Ich bin immer noch in dem kleinen quadratischen Raum. Ich liege mit dem Gesicht nach oben auf dem Feldbett. Allmählich taucht vor meinen Augen das orthodoxe Kreuz aus dem Nebel auf, bis der rissige, verblichene Putz dahinter zum Vorschein kommt.
    Peter sieht ungefähr so aus, wie ich ihn aus dem Konferenzraum im Smolny-Institut von vor sechs Jahren in Erinnerung habe - wo ich ihn und seine Bagage von Salonstrategen am liebsten getötet hätte - schlank, aber mit Bauchansatz. Er hat immer noch fettiges Haar, nur dass es jetzt dünner und grauer ist. Krähenfüße sitzen in den Winkeln seiner Augen, die, wenn ich es mir recht überlege, kleiner sind, als ich dachte, wie Schweinsäuglein. Er hält eine Pistole in der Hand, eine Tokarew Halbautomatik, schön poliert, aber dennoch ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Man kann auch durch die Kugel einer Antiquität sterben, sage ich mir.
    »So sieht man sich wieder, Oberst Volkowoj«, sagt Peter.

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